Montag, 25. Dezember 2006

Die Maschine

Die Gänse sitzen also auf einer Art Fließband, sagt er und zeigt mit der Hand, wie schnell das Fließband zur Maschine führt. Sehr surreal sehe das aus, die vielen weißen Gänse, die alle zur Maschine fahren. Die Werkshalle hätte übrigens nichts Bäuerliches an sich, keine kopftuchtragende, resche Magd säße da, wie man sich das ja so vorstellt, naiverweise, sondern erst einmal wäre da nichts als eine Art Falltür, aus der jeweils eine einzelne weiße Gans auf das Fließband fällt, und dann geht die Klappe für einen Moment wieder zu, damit die Gänse jeweils im richtigen Abstand zur Maschine fahren.

Das alles sei sehr genau aufeinander abgestimmt. Wenn das Band still stünde, so fielen automatisch keine Gänse mehr aus der Klappe, und umgekehrt. Die ganze Taktung verlaufe aber vollständig maschinell, so dass in der ganzen großen Halle voller Gänse nur zwei Menschen stünden. Einer der beiden säße in einer Art Führerhäuschen und hätte die Aufgabe, die Maschine an- und abzuschalten, wenn Fehler auftreten oder irgendetwas sonst nicht funktioniert. Das sei sehr langweilig, denn an den meisten Tagen verlaufe alles reibungslos, und selbst wenn mal etwas sein sollte, dann hielte der Mann in dem Häuschen eben die Maschine an, die Klappe bliebe verschlossen, und Leute kämen, die die Maschine wieder in Ordnung brächten. Eine wenig anspruchsvolle Arbeit sei das also, genau das richtige für Rentner, die sich etwas dazu verdienen möchten.

Der zweite Mann in der Halle stünde direkt neben der Maschine. Seine Aufgabe sei es, die heranfahrenden Gänse zu packen und ihnen ein langes Rohr in den Hals zu schieben. Dieses Rohr sei mit einem Schlauch verbunden, durch den stetig ein Futterbrei geleitet werde. Dieser Futterbrei sei es, dem die Gänse ihre außerordentliche Konstitution verdanken.

Wenn das Rohr im Hals der Gans stecken würde, so sei es die weitere Aufgabe des Mannes an der Maschine, das Rohr rechtzeitig zu entfernen. Die Gans könne sich gegen die Nahrungsmittelzufuhr nicht wehren und würde Schaden nehmen, wenn ihr mehr Futterbrei eingeführt würde, als in ihren Magen passt. Es seien schon Gänse geplatzt, wenn der Mann an der Maschine unachtsam gewesen sei. Damit dies nicht geschehe, blinken immer dann, wenn der Mann das Rohr in die Gans einführt, Lämpchen auf, die wieder erlöschen, wenn genug Futterbrei geflossen ist.

Die Arbeit dieses Mannes kann nicht durch eine weitere Maschine ersetzt werden. Zwar habe es Versuche gegeben, die Gänse mit einer Art automatisierter Rundzange am Kopf zu packen und ihr den Schnabel zu öffnen. Da die Gänse sich aber in stetiger Bewegung befinden, würde oftmals eine Gans nicht richtig erfasst und deswegen auch nicht gefüttert. Manche Gänse würden sich außerordentlich heftig bewegen, so dass die Greifzange der Maschine sie so unglücklich packen würde, dass es mancher Gans den Kopf abgerissen habe. Dann hätte die Maschine stundenlang stillgestanden, der Mann im Häuschen habe die Wartung rufen müssen, und die anderen Gänse hätten über Stunden keinen Futterbrei erhalten. Nur die menschliche Hand habe das erforderliche Feingefühl für das Zusammenspiel von Gans und Maschine.

Nach der Fütterung durch die Maschine gebe es eigentlich nichts mehr zu berichten. Die Gänse werden auf einem weiteren Fließband wieder abgefahren und landen in ihrem Stall. Dieser sei sehr warm und recht eng, da die Bewegung der Gans dem Prozess unzuträglich sei. Hier würden die Gänse verdauen und Fett ansetzen. Nach einigen Monaten habe die Gans dann ein bestimmtes Gewicht erreicht, und werde abtransportiert.

Das aber sei eine andere Geschichte.

Sonntag, 24. Dezember 2006

Der anthroposophische Weihnachtsbaum

Ein gewisses Misstrauen bringt man dem Wirken Rudolf Steiners vermutlich nicht ganz zu Unrecht entgegen, und nur der Erfolglosigkeit der Anthroposophie verdanken wir es, dass die Schriften Steiners nicht unermessliches Leid über die in dieser Hinsicht ja ohnehin recht gebeutelten Menschen Europas gebracht hat. Nichtsdestotrotz schicken Jahr für Jahr unzählige Menschen ihre Kinder in Waldorf-Schulen, nicht zuletzt, weil es sich um eine auch in linksliberalen Kreisen sozial akzeptierten Umgehung der öffentlichen Schulen handelt, welche es Zahnärzten und Dorfnotaren erspart, ihren Nachwuchs mit Leuten zur Schule zu schicken, die die Waldorfeltern Unterschicht nennen würden, wenn das in ihren Ohren nicht irgendwie komisch klingen würde.

Der Erfolg einer Waldorf-Kindertagesstätte im Prenzlauer Berg versteht sich daher eigentlich von selbst, und so erstaunt es unbeteiligte Nachbarn wie mich, dass ein Verein, der sich die Gründung einer solchen Institution auf die Fahnen geschrieben hat, überhaupt noch einer Förderung bedarf. Gleichwohl: Seit mehreren Jahren verkaufen Mitglieder dieses Vereins auf dem Grundstück, auf dem dermaleinst die Waldorf-Kita stehen soll, kurz vor Weihnachten Nordmann-Tannen zugunsten dieser vorschulischen Bildungseinrichtung.

Die Tannen sind ungespritzt, weil das chemische Behandeln von Pflanzen nicht Rudolf Steiners Billigung fand. Außerdem sind die Tannen ziemlich teuer, teurer jedenfalls als vergleichbare unanthroposophische Gewächse, und die diffuse Missbilligung der Anthroposophie im Verein mit dem Preisniveau der Weihnachtsbäume sprechen klar zugunsten eines anderen Baums, den der J. und ich uns ins Wohnzimmer stellen wollen, wie man das ja gemeinhin zu tun pflegt, wenn man, wie wir, Weihnachten nicht nach Hause fährt.

Auch der unanthroposophische Weihnachtsbaumkauf hat allerdings seine Tücken, denn Mitglieder des weihnachtsbaumverkaufenden Fördervereins sind unter anderem auch einige unsere Nachbarn, die alle, alle in den letzten drei Jahren zur Fortpflanzung geschritten sind, und das Haus seitdem mit unermesslich vielen, riesengroßen Kinderwagen, Kindergeschrei und beiläufigen Gesprächen über Mumps und frühkindliche Musikerziehung füllen. Die Verkaufsstätte der Bäume befindet sich nebenan.

Zu den Nachbarn pflegen wir ein freundliches bis sogar freundschaftliches Verhältnis. Die Bäume sind zu teuer und Rudolf Steiner hätten wir ungern zum Essen eingeladen. Zwei Seelen schlugen, ach, in unserer Brust, sofern es denn zulässig ist, von nur einer Brust zu sprechen, wenn zwei Gestalten am Küchentisch das Für und Wider des Kaufs erörtern.

Am Ende siegt der Opportunismus, der Wunsch nach friedlichem Einvernehmen mit den Nachbarn, der Wunsch, keine Gespräche über Waldorfpädagogik führen zu müssen, und auf unserem Balkon liegt nun, ordentlich eingewickelt in ein Netz, der Rudolf-Steiner-Gedenkbaum und wartet auf seinen Auftritt.

Donnerstag, 21. Dezember 2006

Alte Beschwörung. Bann.

Am Ufer nimmt die Nacht dich auf, die Stimmen werden leiser, und nur Carla Bruni singt von der Liebe oder von etwas, was der Liebe manchmal täuschend ähnlich sieht. Westlich der Oberbaumbrücke glänzt die Stadt dir etwas vor, und auf einmal spürst du die rauhe, warme Hand der Müdigkeit auf deinen Lidern.

Komm heim, zieht dich deine warme Wohnung nach Norden, und du lächelst über die Kinder an der Haltestelle, die sich Bier trinkend an den Händen halten und etwas singen, was du nicht verstehst mit der Musik in den Ohren. Vielleicht sind die Kinder nur drei, vier Jahre jünger als du, überlegst du und versuchst, nicht allzu auffällig hinzuschauen und bist ein bißchen traurig, weil das nun vorbei ist und nicht wiederkommt. Keiner wird dich mehr so durch die Luft schwenken, fällt dir ein, als ein Junge ein Mädchen an beiden ausgestreckten Armen um sich herumwirbelt, dass ihre Haare fliegen.

Daheim ist es warm, wünscht du dich die paar Kilometer weiter, wo Licht brennt und jemand auf dich wartet, und schaust doch den Kindern an der Haltestelle nach, die nicht in diese Bahn steigen und stehen bleiben, als du fährst. Ach, und für einen Moment stellst du dir vor, auch du würdest irgendwohin fahren, wo alles anders ist als hier, wo man auch dich herumschwenken würde, dass deine Haare fliegen, wo dein Leben leuchten würde vor Feuer und Kristall, und wo die Stadt glänzt von lauter frischem, grellen Blut auf ihren Straßen.

Sonntag, 17. Dezember 2006

Die schwesterliche Weihnachtsfalle

Exposition (Weihnachten 05)

„Sü-üße!“, flötet Schwesterchen und wirft mir ein Geschenk in den Schoß. „Wir wollten uns doch nichts schenken.“, wehre ich ab. Ich habe vereinbarungsgemäß nichts gekauft. Eine Minute später ist klar: Schwesterchen auch nicht. Auf dem ausgewickelten Teepäckchen klebt der Aufkleber eines Berliner Teegeschäfts, in dem ich ein Jahr vorher mehrere Tees erworben habe, um sie Schwesterchen ergänzend zu einigen anderen Utensilien zur Teezubereitung zu überreichen.

„Hat dir der Tee nicht geschmeckt?“, schleudere ich schwerst beleidigt Schwesterchen das Päckchen zu. „Nun mach‘ doch nicht auch noch Weihnachten Stress!“, stürmt das erboste Schwesterchen davon. „Modeste kann man’s auch nicht recht machen.“, beschwert sie sich bei meiner Mutter und wirft die Tür hinter sich zu. „Das ist doch nicht so schlimm.“, befindet meine Mutter. Ich hätte halt so tun sollen, als hätte ich das Versehen gar nicht bemerkt. „Wenn sie den Tee eh nicht trinkt, kann sie ihn doch verschenken.“, beendet meine Mutter die Diskussion und merkt irgendwann später gegenüber Schwesterchen an, zukünftig besser darauf zu achten, wem sie welche Geschenke weiterschenkt.

Mitte November 2006 beschließe ich daher: Schwesterchen bekommt auch diesmal nichts. Zum einen gilt die Verabredung an sich nach wie vor, uns nichts zu schenken. Zum anderen habe ich mich über Schwesterchen mächtig geärgert, die im Oktober befand, für einen dermaßen langweiligen und unspektakulären Job wie meinen müsste man schon als eine Art Schmerzensgeld mehr Gehalt beziehen, als ich bekomme.

Szenario 1 (die Keiner-schenkt-was-Variante)

Das ortsabwesende Schwesterchen bekommt also kein Paket, und schickt auch mir nichts nach Berlin. Weihnachten sitzt Schwesterchen also bei der Familie ihres Freundes auf dem Sofa, packt das elterliche Geschenk aus, und ruft kurz an oder wird kurz angerufen. „Sü-üße!“, wird sie flöten. „Frohes Fe-est!“, und dann legen wir beide wieder auf.

„Meine Schwester hat einen echten Schaden.“, wird Schwesterchen gegenüber der fremden Familie als Begründung anführen, warum wir uns nicht schenken, und bei der sicherlich irgendwann stattfindenden Hochzeit werden mich alle anstarren, und versuchen, herauszubekommen, was bei mir nicht stimmt, und warum ich das reizende Schwesterchen nicht mag.

Wahrscheinlich Neid, werden sie denken.

Szenario 2 (Die Schwesterchen-schenkt-was-Variante)

Das Schwesterchen geht also in ein Geschäft (oder kramt ein bißchen in den Geschenken des Vorjahres) und packt mir irgendwas ein. Vielleicht bekomme ich auch ein Werbegeschenk, das ihr Freund von Geschäftspartnern erhalten hat. Obstbrand etwa, das mögen wir beide nicht. Oder ein Dekorationsobjekt. Schwesterchen mag Dekorationsobjekte wie etwa luxuriöse, handgezogene Kerzen oder Vasen aus Terrakotta, die mediterrane Leichtigkeit auch in meinem Heim verbreiten.

Weihnachten bin ich also gezwungen, anzurufen und mich zu bedanken. Irgendwann nach Weihnachten wird Schwesterchen zu Hause anrufen, wenn meine Eltern wieder aus dem Urlaub zurück sind, und berichten, dass sie mir ein „klitzekleines Geschenk, gar nicht teuer“ gekauft habe, denn „es geht ja auch nicht ums Geldausgeben, nur dass man zeigt, dass man sich mag.“, oder so ähnlich, und dann stehe ich da als gleichgültiges Biest ohne Familiensinn.

„Wahrscheinlich Neid.“, wird meine Mutter seufzen und sich vornehmen, mit mir mal ernsthaft darüber reden, dass sie zwei großartige Töchter hat, von denen jede ihre ganz eigenen Vorzüge hat.

Szenario 3 (Die ich-schenke-was-Variante)

Die dritte Variante ist die Offensive. Ich packe meiner Schwester großartige Geschenke wie etwa exklusive Seifen im edlen Präsentkarton oder 250 Gramm original belgischer Pralinen in der Nostalgiebox ein und schicke alles per Post zur Familie ihres Freundes.

„Sü-üße, wir wollten uns doch nichts schenken.“, wird Schwesterchen Weihnachten anrufen und ein bißchen jammern, dass ihr das jetzt aber total unangenehm ist. Also sie hätte ja gedacht, wir schenken uns nichts. Da hätte sie sich ja auch dran gehalten, ansonsten hätte sie mir ja auch was geschenkt, aber so sei das eigentlich unfair, wird Schwesterchen lamentieren, und die Familie ihres Freundes wird ihr beipflichten.

„Und dazu nur so Schrott.“, wird Schwesterchen die exklusive Seife oder die original belgischen Pralinen auf den Couchtisch schleudern. „Hat sie bestimmt selbst geschenkt bekommen.“

Nach Szenario 4 wird noch gesucht.

44

Die westliche Welt kennt, wie man weiß, kaum etwas Brutaleres als die Spiegel bei H&M, in denen jede mir bekannte Frau Dellen auf den Oberschenkeln hat, und auf vollkommen indiskutable Art und Weise oben, unten, rechts und links aus den Sachen quillt, die man da kaufen kann. Um aber auch jene Menschen, die diese Umkleiden nicht benutzen, restlos zu deprimieren, hat sich der erfolgreiche schwedische Konzern etwas Besonderes ausgedacht, und bietet auf seiner Homepage unter dem links oben angebrachten Punkt „Umkleide“ die Möglichkeit, Personen zu gestalten, die die eigenen Maße aufweisen und sodann angezogen werden.

„Create my model“, heißt die ganze Veranstaltung, und wer darauf klickt, sieht kurz darauf eine junge Dame (Männer gibt es auch), die ungefähr so aussieht, wie öffentlich abgebildete Frauen immer aussehen. Wie man auf der rechten Seite sehen kann, hat sie eine Sanduhrfigur, und wiegt bei einer Größe von 1,75 ganze 44 Kilo. Ansonsten ist sie braungebrannt, europäisch, jung, und trägt einen Pferdeschwanz.

44, kneife ich mir unwillkürlich in den Bauch. 44. 44 Kilo habe ich zuletzt in der gymnasialen Unterstufe gewogen, da war ich circa 12, ruderte, ritt und rannte, fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad zur Schule, und wurde biologisch hochwertig und ziemlich schwer zerkaubar ernährt. 44, murmele ich leicht verstört und mache mich auf den Weg ins Bad. Zum Glück ist die Batterie der Waage leer.

Um meine Leidensfähigkeit zu testen, gebe ich meine Größe und mein ungefähres Gewicht ein. Sehr jung bin ich auch nicht mehr, glaube ich, und lange Haare habe ich auch nicht, sondern mehr so eine praktische nackenbedeckende Halblangfrisur, die eigentlich nie sitzt, aber darauf kommt es wahrscheinlich eh nicht mehr an. - 44, schnaufe ich vor mich hin.

Letztlich ist irgendwo ein Model verhungert, beruhige ich mich und fasse die dicke Dame auf dem Bildschirm fest ins Auge. Sie ist....nun, rundlich, könnte man sagen. Jürgen Teller oder Karl Lagerfeld würden sich angewidert abwenden. Gleichzeitig versuche ich mir die Differenz zwischen meinem Gewicht und 44 Kilo in Butterstücken vorzustellen. Bei der Vorstellung wird mir schlecht.

44 stöhne ich und beschließe, nur noch Sushi und thailändische Suppen zu essen. Wenn ich jede Woche 1,5 Kilo abnehme..., rechne ich vor mich hin und drehe mich in bißchen vor dem Spiegel an meinem Schlafzimmerschrank. Rund 100 Jahre alt ist der Schrank, und vermutlich, so spekuliere ich, waren alle früheren Eigentümerinnen schlanker. Sogar der Schrank lacht mich aus.

„Tja, Madame Modeste!“, kichert der Schrank und knirscht ein bißchen mit den Scharnieren. „Dermaßen viel Stoff für ein Frau ist mir auch noch nicht untergekommen.“, und biegt sich vor Lachen ein bißchen in den Seiten. „Du sei ruhig!“, werfe ich dem Schrank eine ziemlich große Jeans an den vorlauten Spiegel.

44, 44, murmele ich auf dem Bett liegend verstört vor mich hin, starre an die Decke und betaste verstört meinen Bauch.

Donnerstag, 14. Dezember 2006

Normalverteilung

Auch nie verstanden habe ich ja die rein mathematische Seite des Liebeslebens, die Frage der Verteilung nämlich, mit der es sich folgendermaßen verhält:

Jeder alleinstehende Deutsche verliebt sich ungefähr zweimal jährlich. Rechnen wir das immerhin ausbaufähige Interesse dazu, so kommen wir auf drei verschiedene Personen, auf die sich Hoffnungen richten. Fragen wie „Wer war eigentlich der Typ, der....“, oder „Kennst du den X., der immer kommt, wenn...“, werden gestellt, und auffallend häufig wird von X oder Y gesprochen. Es wäre ganz nett, so gibt die betroffene Person meistens nach einiger Zeit zu, wenn X oder Y einfach mal anriefe. Die interessierende Person indes ignoriert die Versuche, möglichst zufällig miteinander auszugehen, so hartnäckig, dass selbst gute Freundinnen empfehlen, den Betreffenden einfach zu vergessen.

So weit, so gut. Alle alleinstehenden Leute, die ich so gut kenne, dass sie mir derlei Dinge mitteilen, verlieben sich also zwei- bis dreimal jährlich. Gehen wir also davon aus, dass das bei allen Leuten so ist, so müsste sich doch rein rechnerisch auch in jeden – abgesehen von sehr unvermittelbaren Fällen – alleinstehenden Deutschen auch zwei bis drei Personen pro Jahr verlieben? Und selbst wenn man einen großzügigen Faktor von 50 % Abweichung aufgrund differenzierter Attraktivität einbezieht, so kommt immer noch 1,5 Verliebter auf jeden Single, und auf manche eben 4. Da wir besonders schöne und besonders abstoßende Menschen bei dieser Berechnung aus Vereinfachungsgründen einfach weggelassen haben, gleichen sich Models und Monstren gegenseitig aus und tauchen in unserer Alltagsbetrachtung gar nicht auf.

Nun indes zeigt das Leben uns einen sonderbar gewachsenen Pferdefuß, denn beileibe nicht alle Personen, die ich kenne, stoßen in diesem Umfange auch auf Anklang, ohne dabei hässlich, sonderbar oder mit anderen Ausschlussmerkmalen behaftet zu sein. Statt dessen schwören die meisten mir bekannten Alleinstehenden Stein und Bein, exakt niemand habe sich 2006 in sie verliebt, null Liebesbriefe inklusive elektronischer Mitteilungen seien eingegangen, und keine Seele sei ihnen in physischer Hinsicht nachgelaufen.

Da bleiben wenig logische Schlüsse, die mit unseren zuvor eingeführten Axiomen vereinbar wären. Entweder ist die Verteilung noch schlechter als der bisher angenommene Attraktivitäts-Ausgleichsfaktor von 50 %, und nahezu alle Leute verlieben sich in bildschöne, perfekte Geschöpfe, denen nicht – wir erinnern uns - vier, sondern 44 Anbeter anhaften. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Alterung der mich umgebenden Menschen, die das dreißigste Lebensjahr unterdessen so gut wie alle überschritten haben, und mögicherweise der männlichen Vorliebe für zweiundzwanzigjährige Studentinnen beim ersten Betriebspraktikum zum Opfer fallen. Indes war auch mit 22 die Bewerbersituation überschaubar, und denn Männern scheint es nicht anders zu gehen.

Oder die Welt besteht aus heimlich Verliebten die sich gegenseitig ängstlich, gespannt, aber schweigend umkreisen, kein Wort dabei sagen, und irgendwann erschöpft aufhören, verliebt zu sein, weil der andere sie nicht von selbst erhört, was als Alternative weniger deprimierend wäre, aber gleichfalls nicht eben wahrscheinlich.



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