Sonntag, 7. Januar 2007

Ans Meer

Die ganze Luft war voller Asche. Die Asche hing in unseren Kleidern, in den künstlichen Wimpern meiner Freundin N., und die Möbel der Bar schienen getränkt mit einem Öl aus verschüttetem Sekt, Puder und Mayonnaise.

Wir waren tanzen gewesen. Genauer gesagt hatte die N. getanzt, und ich hatte am Rande der Tanzfläche auf einem Barhocker gesessen und mit dem G. über die Mädchen gesprochen, die tanzten und sich gegenseitig absichtlich anrempelten und laut lachten. Irgendwann war der G. gegangen, und die N. tanzte weiter, bis das Licht anging. Bis der erste Bus nach Hause fuhr, saßen wir in der Bar gegenüber an der Theke und rauchten. Die N. rauchte ganz lange, schmale Zigaretten, wie sie in diesem Jahr modern waren, und schon im nächsten absolut unmöglich, und als sich zwei Fremde dazustellten, klopfte die N. beide auf den Bauch und sagte irgend etwas, was bei ihr grandios, und bei mir lächerlich geklungen hätte. Irgendwann verschwand sie mit dem Hübscheren der beiden, einen Spaziergang machen, und ich blieb an der Theke sitzen. Der weniger Hübsche rauchte und schwieg, trank Bier, bestellte mir einen Sekt nach dem anderen, und dachte wahrscheinlich an die N., und die Ungerechtigkeit, dass sein Freund mit der lustigen, lachenden N. spazieren gehen durfte, und er mir gegenübersaß, die stundenlang vergeblich versuchte, witziger zu erscheinen, als es der Wirklichkeit entsprach.

„Wann warst du das letzte Mal am Meer?“, fragte er irgendwann, und ich sprach von den Osterferien. Dänemark. Mit Eltern, Schwester und Hund. "Schön am Meer.", sagte er und schwieg ein paar Minuten. - In sechs Stunden, versprach er nach dem Ende der Pause, könnte man am Meer sein, und in acht Stunden den Sonnenuntergang beobachten, und morgen zurück. „Ist gut.“, sagte ich und rauchte weiter. Mit zwanzig Pfennig in der Tasche rief ich daheim an und gelobte dem Anrufbeantworter Rückkehr am nächsten Abend.

Das Auto des Fremden war klein und alt. „Kannst du überhaupt fahren?“, fragte ich, und er lachte und zuckte die Schultern. Klar. Mit meinem Rucksack auf der Hinterbank fuhren wir los, immer weiter nach Norden. Über der Autobahn ging die Sonne auf und verfärbte die ganze Welt in ein Meer von sanftem, verschwimmendem Rokoko. Unter einem Himmel aus zarten, durchscheinenden Rosa und einem bläulich verwestem Orange fuhren wir dem Meer zu, und die anderen großen und schnellen Autos rasten rechts an uns vorbei. Mit halbgeschlossenen Augen lag ich auf dem Beifahrersitz, rauchte, und hörte dem Fremden mit halbem Ohr zu, wie er von seinem Studium erzählte. Die Uni, so schien es, warf ihm lauter unverdiente Knüppel zwischen die Beine. „Alles nicht so einfach, was?“, fragte ich ab und zu, oder so ähnlich, und er schüttelte den Kopf und erzählte weiter.

Am Nachmittag waren wir da. 2,50 Kurtaxe musste man bezahlen, dann durfte man an den Strand, wo es kühl war und nach Schlick roch, nach Salz und staubigem Sand. Mit dem Kopf auf meiner Jeansjacke schlief ich ein, er rauchte, und irgendwann weckte er mich und wir fuhren heim.

„Hier wohnst du?“, fragte er vor dem Haus meiner Eltern. "Ja.", sagte ich und: „Tschüß.“, und wartete auf eine Verabredung, eine Telephonnummer oder irgend etwas anderes, aber nichts kam. „Danke.“, sagte er, und ich sagte etwas wie „Gern geschehen.“, und „Dir auch vielen Dank.“

Dienstag, 2. Januar 2007

Goldregen, Hörnerklang

„Ne, sonst nichts.“, sage ich und schenke nach: Ein bißchen weniger rauchen, viel weniger essen, und nicht immer entweder viel zu viel arbeiten oder gar nicht. Sonst nichts, behaupte ich und hebe das Glas auf all das, was nicht gesagt werden kann, weil es plump und billig klingen würde, und seinen Glanz verlöre, spräche man es aus, wie manche Insekten, wenn man sie anfasst.

Auf das Ungesagte also. Und mir und Ihnen allen ein gleißendes, strahlendes, jubelndes Jahr 2007, ein Jahr wie ein goldenes Füllhorn, zwölf Monate wie ein lachendes Sommernachtsfest, eine Achterbahn, ein Schrei vor lauter Lebenslust, und nichts zum Bedauern bis zur nächsten letzten Nacht des Jahres.

Sonntag, 31. Dezember 2006

Die bakterielle Verseuchung der Kindheit

Die ganze Welt war voller Bakterien. Insbesondere andere Leute waren mit Mikroben übersät, vor allem meine Familie, und ich sah die Kleinstlebewesen förmlich auf der Haut meiner Anverwandten sitzen wie die Blattläuse auf den Stauden an der Garage meiner Oma. Was aber das Schlimmste war: Meine Familie hatte mir diese bestürzende Tatsache während meines gesamten fünfjährigen Lebens verschwiegen. Erst ein Sachbuch der Reihe „Was ist was“ hatte mir die Gefahren der Mikrobenwelt vor Augen führen müssen.

Vorsichtig, um nicht mit mehr Bakterien als unbedingt nötig in Kontakt treten zu müssen, tastete ich mich ins Bad. Die scheinbar saubere Toilette strotzte vor Krankheitserregern. „Escherichia coli.“, dachte ich und versuchte, das Wasser nach einer ausgiebigen Reinigung wieder abzudrehen, ohne den Wasserhahn zu berühren. Aufgeschlagen lag das angstauslösende Buch scheinbar friedlich auf meinem Bett. Auch das Buch, wurde mir klar, war verseucht.

Am Abend stellte ich meine Eltern zur Rede. Man lachte. Nicht alle Bakterien, wurde ich belehrt, seien gefährlich, aber das hatte ich dem „Was ist was“-Buch auch schon entnommen. Da die Bakterien aber bekanntlich für das bloße Auge unsichtbar und daher nicht ohne unverfügbare Hilfsmittel in gefährliche und harmlose Geschöpfe unterscheidbar waren, beruhigte mich diese Mitteilung nicht. War meine Mutter ungefährlich oder warteten todbringende Kleinstlebewesen auf ihrer Haut nur darauf, mich anzuspringen? Saß im Haupthaar meines Vaters das Verderben und wartete auf mich? Und was war mit Schwesterchen? Was mit dem Hund? – Umzingelt von Gefahren saß ich auf dem Rand der Badewanne und beobachtete misstrauisch meine Hände. Unter meine Fingernägeln, so schien es mir, saßen Millionen Kranlheitserreger und lachten mich aus.

Der übliche Gute-Nacht-Kuss fiel aus. Bekümmert stand mein Vater einige Sekunden in der Tür und atmete Enttäuschung. Aus seinen Nasenlöchern spritzten Kaskaden von Bakterien durch den halbdunklen Raum. „Gute Nacht.“, zog er die Tür zu. „Gute Nacht.“, sagte ich ein wenig schuldbewusst, weil es ja nicht an ihm lag, sondern nur an seiner Eigenschaft als Wirt. In der Dunkelheit meines Kinderzimmers wühlten die Mikroben sich durch den orangefarbenen Bodenbelag, bedeckten wie eine Haut alle Möbel, die Playmobil-Stadt auf dem Boden, und die gleichfalls orangefarbenen Vorhänge waren getränkt mit den hunderttorigen Städten und Reichen der mikroskopischen Fauna. In meinem Kissen tanzten unzählige Milben eine zähnefletschende Polka, und neben dem Bett lag das Buch, in dem man ganz genau sehen konnte, wie die kleinen Mitbewohner meines Lebens aus der Nähe aussahen.

Am nächsten Morgen verlangte ich eine neue Zahnbürste und ein Extrastück Seife. Seufzend legte meine Mutter die verpackten Kosmetikartikel auf die Konsole unter dem Spiegel. In den Kindergarten wollte ich nicht. Die bakteriell verunreinigten Abdrücke der Hände meines Vaters konnte ich auf dem Frühstückstisch förmlich sehen. „Ich will sauberes Geschirr.“, versuchte ich mein Überleben zu sichern.

Die Spülmaschine, so klärte mich ein Blick auf das Display auf, war mit nur 50° C ungeeignet, das Geschirr wirksam zu reinigen. Mit jedem Bissen, so wurde mir klar, nahm ich Bakterien auf, die aus dem Mund meiner Familie über Löffel und Gabel auf die nurn scheinbar sauberen Teller geraten waren. „Ich will ein eigenes Geschirr.“, meldete ich an. Ein paar an Auseinandersetzungen reiche Tage später erschien mein Vater mit einem großen Karton. Ich packte aus: Ein „Hahn und Henne“-Geschirr, ein dazugehöriges Besteck, und mein bekümmerter Vater im Hintergrund. Trotz der gesundheitlichen Risiken fiel ich ihm um den Hals. Fast hätte ich ihn geküsst.

Das neue Geschirr stellte ich selbst in die Spülmaschine. Auch die Reinigung meines Zimmers wollte ich selbst übernehmen und konnte nur mit Mühe davon überzeugt werden, dass Frau T., die Sachwalterin der häuslichen Hygiene, als Profi der Keimfreiheit besser in der Lage sein würde, den Tod aus meinem Zimmer zu verjagen. Immerhin trug Frau T., wie auch Schwesterchen, einige Tage gezwungenermaßen einen Mundschutz aus der Praxis unseres Zahnarztes.

Eines Tages aber war das „Was ist was“-Buch weg. Noch ein paar Tage später packte meine Mutter unsere Taschen, und unsere Mikroben und wir fuhren in Urlaub. Nach der Rückkehr aber hatte die Welt der Kleinstlebewesen für's Erste ihren Schrecken verloren, und nur das Geschirr blieb, wo es war.

Samstag, 30. Dezember 2006

Die Winterswap-Apologie

In den nächsten Tagen wird irgend jemand von diesen Leuten eine ziemliche Enttäuschung erleben. „Wozu schickt man sowas anderen Leuten?“, wird dann als Fazit weiterer, insgesamt schon eher abschätzigen Bemerkungen über die von mir zusammengestellte CD in irgendeinem Blog stehen. Musik, die eh jeder hat, zu verschicken, um im Gegenzuge musikalischer Perlen teilhaftig zu werden, die man aus eigenem Antrieb nie gefunden hätte, sei mehr als dreist – es sei geschmacklos, wird der enttäuschte Empfänger befinden, möglicherweise vor lauter Enttäuschung sogar mit den Füßen auf meiner CD herumtrampeln und sich nie wieder an einer solchen Veranstaltung beteiligen, außer Jochen sucht vorher aus, wer mitmachen darf, und da bin ich dann sicher nicht dabei.

Außerdem bin ich zu spät. Das macht nichts, weil andere Leute auch nie pünktlich sind, so dass es sogar eine eigene Liste für Zuspätkommer gibt, aber spät und fade, wird der Empfänger befinden, sei ein bißchen viel, und mit einem gewissen Groll an seine Mordscompilation denken, die er liebevoll zusammengestellt hat, während andere Leute – beispielsweise ich – ihre CD am allerletzten noch fristgemäßen Abend aus den TOP 25 ihres itunes zusammengehauen haben, und dann nicht einmal Lust hatten, noch zum Briefkasten zu gehen.

„So eine Sauerei!“, wird der Empfänger urteilen, und damit natürlich recht haben, und deswegen, sehr geehrter Empfänger der von mir noch abzuschickenden CD, möchte ich mich bereits jetzt in aller Form bei Ihnen entschuldigen und nur am Rande ansprechen, dass das Schicksal selbst Ihnen anhand dieses unscheinbaren Vorfalls vor Augen führen möchte, dass es stets besser ist, Pflichten früher zu erledigen als später, denn dann wären Sie nicht auf dieselbe Nachrückerliste wie ich geraten, hätten folglich eine andere CD bekommen, und man weiß ja nie, wo Ihnen diese Lektion in Sachen Pünktlichkeit noch einmal zum Vorteil gereichen wird, und da nimmt man so eine lausige CD doch gern in Kauf.

Freitag, 29. Dezember 2006

Wie es ausgeht

Unschön an der Endlichkeit des Lebens ist ja nicht nur, meine Damen und Herren, der Vorgang an sich, obwohl auch die Auslöschung keine angenehme Vorstellung ist – dieser Schrecken, ins Bodenlose zu fallen, und all das, was man jemals gedacht, gesagt, geliebt oder getan hat, einfach weggewischt zu wissen wie man ein Galgenmännchen nach beendetem Spiel von der Tafel wischt, um es ganz und gar zu vergessen. Erschreckend auch die Vorstellung von Schmerzen, die so recht geeignet sein mögen, einem die Seele aus dem Leib zu treiben, und derart arg, dass man ganz zuletzt als ein schwitzendes, entmenschtes Stück Fleisch nach dem Ende schreien mag und bliebe einem auch nichts das schiere Nichts.

Benebst Schmerzen, Schrecken und Dunkelheit, der Einsamkeit auf die letzten Meter selbst in Anwesenheit jener Menschen, mit denen wir doch alles teilen, und immer beieinander bleiben wollten, ist es wohl von untergeordneter Relevanz, aber doch wohl ärgerlich, ab einem Tag, einer Stunde, einem bestimmten Moment nicht mehr zu erfahren, wie es weitergeht, nicht mit einem selbst, das ist ja vorbei, aber doch mit dem Rest der Welt und besonders mit jenen, die uns mehr angehen als andere.

Wann sich der hinterbliebene Witwer trösten mag, und mit wem wohl? Wird er die Neue mehr lieben als dich, wütender begehren, sehnsüchtiger erwarten? Wer wird deine Lieblingskette tragen, wer an deinem Schreibtisch sitzen? Wer wird weinen, und wer wird nur so tun? Wer, den du längst vergessen hättest, wäre dein Gedächtnis nicht besser, als dir lieb ist, wird einen trübsinnigen Abend verbringen, wenn er von der leeren Luft hört, die du bis gestern gefüllt hast, und es nun nicht mehr tust? Wer, über dessen Anruf du dich gefreut hättest, wird nur ein Schulterzucken übrig haben oder gar nicht mehr wissen, wer du bist? Wie ist das Essen bei der Beerdigung, wer wird nächstes Mal Kanzler, und wie hättest du ausgesehen mit 80?

Und hätte sich das Durchhalten gelohnt?



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