Sonntag, 10. Dezember 2006

Die Eisbärrettung

Wenn Sie zu den Leuten gehören, die geräuschvollen Frohsinn auch eher so ein bißchen obskur finden, so fragen Sie in allzu lustiger Runde doch einfach einmal nach dem Klimawandel. Lassen Sie etwa folgende Stichworte fallen: Erderwärmung, Al Gore, Versteppung der semiariden Zonen, und sofort wird sich das Gesicht Ihrer Gegenüber in sorgenvolle Falten legen. Im Anschluss an diesen atmosphärischen Umschwung geht es die nächsten zehn Minuten um nicht weniger als den Weltuntergang, und auch im Übrigen versichere ich Ihnen: Den Rest des Abends wird die Atmosphäre am Tisch nicht mehr die selbe leichtlebige und sorglose Färbung annehmen wie vor Ihrer Intervention.

Tatsächlich jedoch können alle ehrlichen Berliner die Erwärmung der Erdatmosphäre nur begrüßen. Wer jemals auf der Frankfurter Allee dermaßen gefroren hat, dass er jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit fürchte musste, am Abend würden ihm nach seiner Rückkehr von der Arbeit aus den gefütterten Stiefeln die abgefrorenen Zehen entgegenfallen, weiß, was ich meine. Wer – wie ich – nach mehr als zwanzig mützenlosen Jahren in seinem ersten Berliner Winter eine ebenso entstellende wie gehörbehindernde Kopfbedeckung gekauft hat, wer auch ohne Führerschein die Anschaffung eines Autos erwogen hat, um nicht mehr allmorgendlich auf dem Bahnsteig der S-Bahnstation Warschauer Straße zu erfrieren, findet eine Erwärmung der durchschnittlichen Lufttemperaturen eigentlich richtig gut.

Auch wahrheitsliebende Personen indes geben diesen Sachverhalt ungern zu. Hier kommt die ganze Macht gesellschaftlicher Konventionen noch einmal zum Tragen, und erst nachts nach halb drei und nach dem Genuss großer Mengen alkoholischer Getränke geben die Berliner zu, die Klimakatastrophe zu lieben. Mit offenem Mantel, nachts auf dem Weg durch die Stadt, umspült von einer seidig-lauen Luft, wie sie sonst nur ungefähr im September oder im April die Straßen der Stadt durchweht, wandeln glückliche Menschen langsam durch Berlin. Zu Hause drehen sie mächtig die Heizung auf, um die Emissionen großer Kraftwerke zu steigern, machen das Fenster auf und begleiten die Zeitungsmeldungen vom Anstieg der weltweiten Treibhausgasemissionen mit kleinen, freudigen Juchzern.

Eines indes belastet des Berliners Seele: An den Polen, so hört man, verhungern die Eisbären, und das eisbärgeneigte Herz quillt über vor Mitleid mit den ausgemergelten Tieren, die man sich auf einer viel zu kleinen Eisscholle treibend vorstellt, jammervoll nach Fischen schreiend, und schließlich verendend. Als ehemaliger Halter einer ganzen Armee von Teddybären ist dieser Umstand geeignet, auch den an sich klimawandelfreundlichen Menschen ein wenig zu betrüben.

Das Schicksal der Eisbären jedoch, meine Damen und Herren, ist kein unabänderlicher Zustand, das Schicksal der Eisbären liegt vielmehr in unser aller Hand:

Wie Sie wissen, bietet die ehemalige Cargolifter-Halle gut geheizt als sog. „Tropical Island“ zahlenden Gästen alle Freuden eines Südseeurlaubs in Gestalt eines Strandes, der Möglichkeit des Verzehrs von Speisen und Getränken, Shows, wie sie viele Menschen an die Freizeitbelustigungen karibischer Ferienanlagen erinnern. Wie es indes sicherlich auch Sie befüchten, wird die Nachfrage nach dieser Art von Vergnügungen im Zuge der zunehmenden Erwärmung Berlins erheblich abnehmen, und das "Tropical Island" spätestens an dem Tag Konkurs anmelden, an dem auch im November leichtgeschürzte Berlinerinnen am Strand der Spree eisgekühlte Getränke konsumieren.

An den Polen sterben also die Eisbären, die Cargo-Lifter-Halle steht leer, und die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den weltweit führenden Herstellern von – auch großformatigen – Kühlschränken.

Da liegt die Lösung doch auf der Hand.

Mittwoch, 6. Dezember 2006

Die Vernachlässigung

„Dich verpetz‘ ich im Internet!“, rufe ich dem J. in den Flur hinterher. „Du bist zu alt für den Mist.“, macht der J. alles noch viel schlimmer. Traurig und leer stehen meine Stiefel vor dem Sofa.

„Ich habe schon Ostern keinen Goldhasen bekommen.“, starte ich eine Philippika größeren Ausmaßes. Den erwünschten Adventskalender von Lindt für Kinder habe ich auch nicht erhalten. Nicht einmal einen billigen, blöden Adventskalender für 2,99 von Lidl oder so hat der J. herangeschafft, zum Geburtstag gab es bloß ein einziges, ziemlich kleines Geschenk, und in Rom hat es nicht einmal für ein ganz, ganz mickeriges Souvenir gereicht.

„Du sollst keine Schokolade mehr haben!“, hält mir der J. vor. Ich würde, behauptet er, die Schokolade nämlich gar nicht, oder nur sehr teilweise essen, und statt dessen würde sich der J. gezwungen sehen, die mir übereigneten Süßigkeiten selber zu verzehren. Dies führe auf lange Sicht zur Verfettung, sei folglich zu vermeiden, und deswegen, so kündigt der J. an, solle ich Weihnachten diesmal auch keinen bunten Teller bekommen.

„Das veröffentliche ich!“, halte ich dem J. seine unfassbare Herzenskälte vor. Soll doch die Weltöffentlichkeit über die Grausamkeit entscheiden, mit der der ansonsten geschätzte Gefährte seine eigene Freundin behandelt. Soll amnesty international Unterschriftenaktionen zugunsten vernachlässigter Freundinnen starten, das Menschenrechtssekretariat der UN eine Delegation in unsere Prenzlberger Wohnung entsenden, und die Bundesregierung nach langem Hin und Her eine entschiedene, wenn auch vorsichtig-verständnisvolle Protestnote an den J. schicken des Inhalts, dass eine derart brutale Vernachlässigung der berechtigten Interessen seiner Freundin von der Bundesrepublik möglicherweise mit Sanktionen belegt werden würde, wenn er nicht damit aufhört.

Aber den J. lässt das kalt.

Dienstag, 5. Dezember 2006

Jubilate

Onkel A. findet, man sollte sich schämen. Tante M. findet, Weihnachten solle man nicht über den Krieg sprechen und über den Kommunismus könne gar nicht wenig genug gesprochen werden. Onkel A. solle besser noch ein Stück vom Stollen essen und vielleicht ein bißchen Klavier spielen. Widerstrebend setzt sich Onkel A. auf den Schemel und klimpert ziemlich lustlos Weihnachtslieder. „Die Kinder sollen mitsingen!“, fordert Tante M. uns auf, aber wir bleiben sitzen. Tante M. seufzt.

Auf dem Tisch türmen sich auf mehreren Tellern Schokoladenweihnachtsmänner und stanniolverpackte Süßigkeiten. Nougatgefüllte Kugeln, Nüsse, Mandarinen und gebräuntes Königsberger Marzipan, kleine runde Schokoladenplätzchen mit bunten Streuseln drauf, Lebkuchen und Plätzchen. Die mit den roten Klecksen in der Mitte sind von Tante M. Ab und zu stößt uns die Großmutter an, auch von den Plätzchen der Tante zu essen. Tante M. sei sonst traurig, flüstert sie uns zu. Ihre eigenen Plätzchen sind auf diese Ermahnung nicht angewiesen. Kleine Kokosberge gibt es und Vanillekipferl, bunte Butterplätzchen und Zimtsterne, Schokoladenhäufchen und Engel mit einer Nuß im Bauch.

„Modeste verträgt keinen weißen Zucker.“, behauptet meine Mutter. Das stimmt nicht, aber ab und zu erinnert sich einer Erwachsenen an die mütterlichen Ermahnungen und schiebt den Teller weg, wenn ich komme. Meine Großmutter dagegen weiß, dass Zucker nicht schädlich ist für Kinder, und steckt mir Süßigkeiten zu, wenn meine Mutter nicht hinschaut, und gelegentlich auch, wenn meine Mutter danebensitzt. Meine Mutter schweigt. Ihre Schwiegermutter sei schwierig, wird sie ein paar Tage später ihrer besten Freundin erzählen.

Damit ich auch etwas zu naschen habe, hat meine Mutter extra Süßigkeiten mitgebracht, Fruchtschnitten und Studentenfutter aus dem Reformhaus. Die mag ich nicht. Die meisten Fruchtschnitten isst deswegen der lustige Onkel U., der seine neuen Freundin mitgebracht hat, mit der keiner spricht. Ziemlich geschminkt ist die Freundin, die ich Jahre später als Internistin an einem Berliner Krankenhaus wiedertreffe. „Die Kellnerin“ nennt sie meine Großmutter, als sei das etwas Unanständiges. Irgendwann tuscheln Onkel U. und seine neue Freundin miteinander und fahren dann einfach weg, obwohl wir doch so schön zusammensitzen, Kinder, sagt die Großmutter vorwurfsvoll. Mein Großvater nickt. Schuld ist die Kellnerin, die keinen leichten Stand haben wird in den nächsten Jahren, trotz Hochzeit und Kind. Die Scheidung musste ja so kommen, werden die alten Damen eines Tages sagen, die Schwestern des Großvaters, die nebeneinander am Couchtisch sitzen und viel zu selten besucht werden. Kinder sind undankbar, ist man sich einig.

Die Hunde müssen in der Küche bleiben, denn im Wohnzimmer steht der Weihnachtsbaum, der umkippen könnte, wenn ein Hund dagegenläuft. Im Esszimmer haben Hunde nicht zu suchen, und so hört man es gelegentlich in der Küche bellen und jaulen, wo vier Hunde aufgeregt auf viel zu engem Raum zusammengesperrt warten. Meine Mutter schmollt, weil ihr Hund trotz nachweislicher Wohlerzogenheit auch nicht ins Wohnzimmer darf.

Die Tante H. hat letztes Jahr versucht, sich umzubringen, und hat nun wie ein rohes Ei behandelt zu werden. Benommen von Medikamenten, von denen sie wieder fröhlich werden soll, sitzt sie verschämt auf dem Sofa. So etwas tut man nicht, sagt die alte Tante D. in der Küche zur Großmutter. Wir sollen im Gästezimmer spielen, aber die Bücher habe ich schon ausgelesen, die neue Puppe mag ich nicht, und Cousin J. will seinen Lastwagen nicht hergeben. Geschrei, Cousin J. weint, und ich muss mich entschuldigen. Cousin L., der schon 15 ist, ängstigt die Kleinen mit Geschichten von menschenfressenden Gespenstern und wird deswegen in die Küche beordert, Geschirr abtrocknen.

Tante H. wird nun doch etwas lebhafter, weil die Medikamente wirken, und findet es nicht gut, dass es Weihnachten nur um Kommerz geht. Weihnachten ist das Fest der Familie, weist meine Großmutter sie zurecht. Onkel A. findet Weihnachten auch verlogen, mein Vater scheitert am Aufbau eines Fischer-Technik-Baukrans, und seine Tanten sprechen ununterbrochen auf ihn ein.

„Die Kinder sollen singen.“, fordert Tante M. und nochmal auf. „Ich will nach Hause!“, plärrt eine der kleinen Cousinen. „Kinder, kommt ihr singen?“, greift Tante M. sich rechts und links je ein Kind und schleppt uns zum Klavier. - „Lass doch die Kinder in Ruhe!“, steht Onkel A. vom Klavierhocker wieder auf und schließt den Deckel. „Tu den Kindern doch den Gefallen!“, befiehlt die Tante ihn vergeblich zurück. - „Es gibt gleich Essen.“, unterbricht die Großmutter. Tante M. ist beleidigt.

„Nächstes Jahr bleiben wir zu Hause.“, behauptet meine Mutter am nächsten Morgen auf dem Heimweg. Stur schaut mein Vater geradeaus auf die Autobahn. „Das können wir meiner Mutter nicht antun.“, wird er zwölf Monate später meiner Mutter vorhalten.

Ein weiteres Jahr später aber ist der Großvater tot, die Großmutter folgt zwei Jahre später, und fünf weitere Jahre später hören meine Eltern auf, Weihnachten zu feiern und fahren einfach weg, irgendwohin, wo keine Weihnachtsbäume wachsen.

Montag, 4. Dezember 2006

Die Irrfahrten der Frau M. und ihres Gefährten

An irgendeinem Punkt der Müdigkeit kippt die Benommenheit um, und macht einem überwachen, nervös geschärften Zustande Platz, in dem die Welt um mich herum einen gleichsam surrealen Charakter annimmt. Die Farben wirken trotz der schwachen Beleuchtung im Flugzeug satter und greller. Das Licht der Leselampe scheint einen fremdartigen, seitlichen Einfallswinkel anzunehmen, das an die Beleuchtung auf Gemälden de Chiricos erinnert. Ab und zu zupfe ich dem geschätzten Gefährten neben mir an den Locken. Der Gefährte schläft.

Immer wieder falle ich in einen leichten Schlaf, in dem sich die Bilder der letzten Tage und die längst vergangener Tage ineinanderschieben. Das gleißende Rom des Sommers 1993, aufgerissen wie eine überreife Tomate. Die Weite der Plätze dagegen in diesem November, die ausgeräumten Gesichter der Römer am Ende des Jahres, entleert und grau wie Rom selber, als habe der Winter der Stadt das Blut ausgesaugt. Der Winter ist ein harter Mann, singt der Schlaf mir vor. „Bitte anschnallen“, beendet ein Steward die Schlafgesänge, und langsam sinkt das Flugzeug ab. 21.00 Uhr in Berlin Schönefeld.

Mir dem Taxi will der J. nicht fahren, der Regionalexpress kommt erst in zwanzig Minuten, und die S 9 sofort. „Wieso steht hier nur Schöneweide?“, frage ich den J. und zeige auf das Schild auf dem Bahnsteig. Der J. weiß das aber auch nicht, und so steigen wir ein. „War doch schön in Rom, oder?“, frage ich den geschätzten Gefährten ein wenig ängstlich, und bin erleichtert, als er nickt.

Warum können die nicht alle schweigen, denke ich, als der Zug anfährt, und ein Mädchen laut telefoniert. Irgendwem hat sie nicht erzählt, dass sie nach Berlin fährt, der jetzt beleidigt ist. Jetzt verteidigt sie sich laut und engagiert. Warum legt sie nicht einfach auf, denke ich und schließe immer wieder für Sekunden die Augen. Müde bin ich. Schlafen will ich, das Licht ausmachen, erst die Ruhe und dann das Nichts. Mich loslassen und treiben.

Mit Schlafen aber ist es nichts. Schöneweide ist Endstation. Schienenersatzverkehr bis Baumschulenweg, und mit all den anderen Fahrgästen, die von der Peripherie nach Mitte fahren, verlassen wir die Station. Kalt ist es, kälter als in Rom, und außer den Reisenden mit ihren Koffern vom Flughafen haben sich die Waggons mit Jugendlichen gefüllt, die im Südosten der Stadt wohnen, und am Samstag abend dahin fahren wollen, wo etwas los ist. Da wohnen wir.

Keine schönen Menschen wohnen hier am Rande der Stadt. Jung sind sie alle, aber etwas fehlt, vielleicht die Elastizität, das Federnde des Jungseins. Unproportioniert wirken sie, irgendetwas an ihnen passt nicht zueinander, und bleich sehen sie aus, etwas grob dazu, mit allzu großen Händen und Füßen. Trotzig betonen sie ihre unschönen Gestalten mit greller, billiger Kleidung, weiße Jeans, glitzernde, synthetische Stoffe und vielfarbigem Make-Up. Die Mädchen trinken Mixgetränke aus der Flasche, die Jungen Bier, lachen und lärmen laut und ungeschlacht, und die Atmosphäre ist geladen mit Aggressivität. Ein falsches Wort, eine Geste, und einer der grölenden Jungen wird die Hand heben, denke ich. Mir ist nicht wohl.

Der Gefährte schweigt halb verschlafen, halb angewidert, und im übervollen Bus schauen wir ein wenig ängstlich um uns. Laut und zotig geht es her, und die Müdigkeit lässt die groben, billigen Gesten noch greller wirken. Wären wir schon da, daheim, und die Nacht still und dunkel, denke ich.

Der Bus spuckt seine lärmende, laute Fracht auf den Bahnhofsvorplatz. In Baumschulenweg gibt es nicht einmal Taxen. Betrunkene Frauen lachen in schrillem Diskant und stoßen ihre Flaschen gegeneinander. Es wird noch mehr gelacht, man erkennt sich, fällt sich um den Hals, und die kehligen, halb noch stimmbrüchigen Stimmen der Jungen sind kaum zu verstehen. „Die können ja nicht einmal mehr richtig sprechen.“, raune ich dem J. zu und drücke mich enger an den geschätzten Gefährten.

Auf dem Bahnsteig schwankt eine Gestalt im Kunstpelz herum, ein Mann mit tiefer, verbrauchter Stimme, geschminkt und mit ausgestopfter Bluse, wiegt sich in den Hüften, wie es nur Männer tun, die Frauen imitieren. Er wankt von Gruppe zu Gruppe. Einem Jungen hält er die falschen Brüste entgegen, spricht Unartikuliertes und drückt sich eng an den Wartendenden vorbei. Brueghel, denke ich. Oder Bosch, und weiche in weitem Bogen aus, wenn die wirre Gestalt sich nähert. Mitleid sollte man haben, ermahne ich mich, aber mein Mitleid ist müde, mein Mitgefühl mit dem armen Verwirrten reicht nur noch bis zu dem Wunsch, jemand möge ihn in ein Krankenhaus bringen, irgendwo anders hin jedenfalls, und für Mitleid mit den derben, lärmigen Jugendlichen sind jene zu laut. Schweigt, denke ich. Oder bleibt einfach zu Hause.

In der endlich eingefahrenen S 9 hat jemand einen Stock vergessen. Es handelt sich um einen langen, baseballschlägerartigen Stock, der einfach so vor unserem Sitz liegt. „Was macht man mit so einem Stock?“, frage ich den J. „Sich prügeln.“, antwortet der und berührt den Stock angeekelt mit den Fußspitzen.

Ab Treptower Park wird es besser. Die betrunkenen Krokodilsgesichter werden weniger, die Stimmen leiser, und die Anspannung sinkt. Langsam kriecht die Müdigkeit wieder näher.

„Ich muss noch was essen.“, sagt der J., und spät, schwankend vor Schlaf, bedeckt von den grellen, groben Fetzen der Fahrt sitzen wir uns gegenüber. „Was darf ich euch bringen?“, sagt der Kellner, und von draußen drückt meine Müdigkeit dämonische, fratzenhafte Gesichter an die Fensterscheiben des Lokals.

"Fast zu Hause.", lächelt der J. mir zu.

Dienstag, 28. November 2006

Das fast gemeine Fräulein M.

„Der steht total auf dich!“, versichert die blonde Freundin ihrer dunkelhaarigen Begleitung am Nachbartisch im 103. „Und warum ruft er dann nicht an?“, fragt die mit den langen, dunklen Haaren ihre blonde Freundin nach den Beweggründen eines gewissen Florian und rührt mit einem langstieligen Löffel in einem Glas frischen Pfefferminztees, als ginge es darum, die schwimmenden sattgrünen Blätter möglichst klein zu hacken. „Der ist total schüchtern.“, behauptet die Blonde und zieht das „a“ bei „total“ ganz, ganz lang. „totaaaaal“, sagt sie, so ein bißchen nasal.

Der anrufverweigernde Florian traue sich einfach nicht heran an eine so starke Frau wie die dunkelhaarige, erklärt die Blonde die Psyche des unbekannten Florian ihrer Nachbarin und greift sich energisch in die dünnen Haare. Florian, der irgendwo auflegt, markiere zwar die coole Sau, aber das sei alles nur Fassade. Florian müsse deswegen ermutigt werden, ordnet sie an. Ihre Freundin nickt.

Einfach anrufen ginge aber nicht, denn die Dunkle, die anscheinend Nicki heißt, hat Florian offenbar schon einmal angerufen. Ziemlich wortkarg sei er am Telephon gewesen, berichtet die Dunkle und spielt mit einem riesengroßen Plastikring. „Klar!“, nickt die Blonde, als habe sie genau das erwartet. Der Anruf der Dunkelhaarigen habe Florian so aus dem Konzept gebracht, dass er gar nichts hätte sagen können. Deswegen riefe er jetzt auch nicht an, erläutert sie weiter. Florian hege Versagensängste und hätte die Befürchtung, einer so tollen Frau wie der Nicki nichts zu sagen zu haben.

Leicht mokant, mit der winzigen Hebung der linken Augenbraue, die ich nie beherrschen werde, nimmt meine Begleitung die Ausführungen am Nachbartisch zur Kenntnis. „Oh mein Gott.“, murmele ich, nehmen einen tiefen Schluck aus meinem Glas heißer Zitrone, und hole tief Luft.

„Geht’s euch noch gut?“, überlege ich einen kurzen Moment meine Nachbarin einmal laut anzusprechen. „Florian wird überhaupt nie anrufen.“, würde ich fortfahren. „Florian hat einfach kein Interesse an dir, denn jenseits des zwanzigsten Lebensjahres pflegen nur noch diejenigen Menschen heimlich verliebt zu sein, die guten Grund zu der Annahme haben, ein Geständnis ihrer Gefühle werde vom Adressaten als lästig empfunden. Wer interessiert ist, dem merkt man das auch an.“

Wenn ich schon so schön in Fahrt wäre, würde ich natürlich gleich weitermachen: „Florian, wer auch immer das ist, hat auch keine Angst vor starken Frauen, sondern höchstens eine Antipathie gegen dicke Frauen, und dick ist für den durchschnittlichen Berliner DJ jede Frau, die mehr als 45 Kilo auf die Waage bringt. Florian hat vermutlich auch kein Faible für Frauen über dreißig, nicht mal dann, wenn sie sich benehmen, als seien sie zwölf.“

Statt dessen trinke ich weiter. Die beiden Frauen zahlen und gehen, und in der Tür dreht sich die Dunkelhaarige noch einmal um. Sehr alt sieht sie in diesem Moment aus. Noch sieht man die Falten neben ihrem Mund nicht so genau, und nicht die hängenden Wangen. Man ahnt ein bißchen, wo die Markierungen einmal sein werden in nicht mehr ganz so vielen Jahren.

Unseren täglichen Selbstbetrug gib uns heute, murmelt es halb amüsiert, halb sarkastisch neben mir, und ich schwöre mir, so ehrlich wie möglich zu sein, wenn es einmal so weit ist, und fürchte, dass mehr Ehrlichkeit den beiden Frauen nicht möglich ist, die jetzt an den Fenstern der Bar vorbeigehen, die Kastanienallee hoch, und sich freundlich anlügen, weil das Leben kalt und grau und nicht auszuhalten ist, wenn Florian nicht anruft, und auch keiner sonst.



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