Mittwoch, 21. Februar 2007

Für später

Die M. sitzt vor der Heizung, die Beine angezogen, und die Hände vor den Schienbeinen verschränkt. Auf dem Bett rauchen die K., die S. und ich, und auf ihrem einzigen Sessel liegt die C.² mehr als sie sitzt. Es gibt Glühwein aus Tetra-Packs, nur DM 1,29 bei Plus, aber heiß und süß. Auf dem Boden flackern ein paar Teelichter, und die beiden Aschenbecher laufen stündlich über und werden in eine Glasschale geleert, damit es nicht anfängt zu brennen.

Es ist morgens, irgendwann zwischen vier und sechs, und wir kommen von einer Party. Die Party der Wirtschaftswissenschaftler vielleicht, vielleicht die feiernde Sportfakultät. Ganz sicher nicht die Juristen, denn dann säße ich nicht hier mit den „Mäusen“, wie meine Lehrstuhlkollegen aus dem Verfassungsrecht spötteln: Die Mäuse, die alle Deutsch und Englisch auf Lehramt studieren, Slawistik und Geschichte auf Magister oder so ähnlich.

An diesem Abend muss die K. getröstet werden, die mit den größten Hoffnungen zu der Party gefahren war, aber der P., um den es – glaube ich – ging, stellte sich als uninteressiert heraus, und muss der P. nun gründlich miesgemacht werden, damit es nicht so schlimm ist, ihn nicht bekommen zu haben. Immer neue Fehler des P. tischen die S. und die C.² der K. auf, von seinen Augenbrauen bis zu seinem Auto bleibt kein Lebensbereich verschont, und ab und zu piepst die K., alle hätten recht, und es sei sicher besser so. Dann folgt ein langes Schniefen.

Still und etwas abwesend sitzt die M. an der Heizung, tröstet nicht mit, trinkt keinen Glühwein und raucht nur ebenso hastig wie die anderen eine Schachtel Marlboro Lights nach der anderen leer. Irgendwann steht sie auf und geht. „Bis bald, Süße.“, wird sie in der Tür umarmt und verschwindet. Ein, zwei Minuten später hört man ihren Wagen anspringen, erst lauter werden, und sich dann langsam entfernen.

Besonders still sei die M. heute gewesen, bemerkt die C.² nun, als sie gegangen ist. Sicher sei so eine Party kein Spaß für die ruhige, schüchterne M., die ihre neunzig Kilo von Semester zu Semester verzweifelter durch die Parties schiebt, und inzwischen nicht einmal mehr zuhört, wenn die C.² oder die S. oder irgendwer über Töpfe und Deckel, und die unendliche Spannweite des männlichen Geschmacks sprechen. - Sie habe noch nie einen Freund gehabt, erzählt die M. einmal nach sehr, sehr viel Sekt und ich nicke, weil mir sonst nichts einfällt. Nicht so schlimm, möchte ich sagen, aber weil das gelogen wäre, bleibe ich lieber still.

Um geliebt zu werden, müsse man sich auch selber lieben, behauptet die S. und lobt die zarte Haut und die Oberweite der M.. Wenn die M. sich selber erst einmal mögen würde, stünden die Bewerber Schlange, nett, reizend und natürlich, wie die M. sei. Die Problem, doziert die auffällige, gertenschlanke S. vor sich hin, säße im Kopf der M., nicht auf ihren Hüften. Wo aber auch immer die Ursache für den amoureuxen Misserfolg der M. zu verorten ist: Im nächsten Semester ist sie noch schwerer, noch unglücklicher, und geht noch weniger gern zu den Parties der Fakultäten oder gar anderswohin. Allein in ihrem Appartement raucht die M. irrsinnig viele Zigaretten, tröstet sich mit Sekt oder Pralinen, und ab zu bekommt sie Besuch.

Es macht wenig Spaß, der M. beim Unglücklichsein zuzuschauen, und so bleiben die Gäste langsam aus. Irgendwann beginnt die M., immer später aufzustehen, seltener zur Uni zu gehen, und weint manchmal unvermittelt, wenn man sie anruft. Zur Hochzeit ihres Vaters mit einer Frau, die keine zehn Jahre älter ist als die M., sagt sie ab. Der M. müsse geholfen werden, sagen die C.², die S. und die anderen, aber am Ende sitzt die M. wieder allein in ihrer Wohnung, und was sie da tut, weiß keiner mehr so recht, weil keiner nachschaut.

Eines Tages kommt die M. gar nicht mehr in die Uni, und als S. und C.² klingeln, macht niemand auf. Im Krankenhaus sei die M., sagt ihr Vater, den die C.² anruft. Ein paar Tage später ruft wiederum er die C.² an und bittet darum, seiner Tochter eine Tasche zu packen. Seine Tochter ginge es schlecht. Den Schlüssel schickt er der C.² zu.

Am anderen Abend steht die C.² in der Wohnung der M. Im Dämmerlicht hinter geschlossenen Vorhängen liegt alles durcheinander. Das Parkett ist schmutzig. Asche und Stanniol, Papier, Glas und Plastikverpackungen liegen herum, und das Bett ist lange weder gemacht noch die Bettwäsche gewechselt worden. Im Badezimmer riecht es muffig und feucht.

Die Tasche der M. steht auf dem Schrank. Der Schrank selber ist riesengroß, ein fünftüriges, massives Monstrum, und als die C.² die Türen öffnet, hängen Dutzende von Kleidern und Hosen, Blusen und Oberteilen ordentlich nebeneinander, und aus allen Kleidungsstücken, aus jeder Bluse, an jeder Hose hängen die Etiketten der Geschäfte heraus. Ganz neu sind die Kleider der M. Nicht schlecht, denkt die C.², die selbst bei H&M auf die Preise schauen muss, und ihr Geld in einer Buchhandlung verdient, abends und an Samstagen. Nicht schlecht, denkt sie, als sie die Preise sieht. Die M. hat nicht gespart beim Kauf, aber getragen, getragen hat sie die mit Geschmack und Sorgfalt ausgesuchten Kleidungsstücke nie, und die C.² erschrickt: Jedem Etikett, dreißig oder vierzig baumelnde Papierschildchen, ist zu entnehmen, dass dieses Kleidungsstück für schlanke Frauen geschneidert worden ist, für sehr schlanke Frauen: Größe 36 hat die M. gekauft, Spitzenwäsche und Cocktailkleider, knappe Oberteile für abends und Kostüme für wer weiß schon welchen Anlass.

Für später, wird sie der C.² tags drauf im Krankenhaus erklären. Für später, wenn alles anders geworden sei, wenn ihr Leben ihr gefällt, wenn die Anlässe stattfinden, für die man Cocktailkleider und bunte Röcke braucht, habe sie eingekauft, und stumm steht die C.² neben dem Krankenhausbett und sucht nach den richtigen Worten.

Ob es aber dieses Später gegeben hat, ob die M. die vielen Röcke, T-Shirts und Hosen jemals getragen hat, das weiß ich nicht, denn in die Uni kam die M. nicht zurück. Ob sie woanders weiterstudiert hat, weiß ich auch nicht zu sagen, denn bei uns, bei der S., der C.², der K. oder mir hat sie sich nicht mehr gemeldet.

Montag, 19. Februar 2007

Vergesst es, Mädels

Meine Klassenbeste ist Richterin geworden. Manche andere Klassenbeste hat es ins Ministerium geschafft; viele stehen selber als Lehrerin vor der Klasse, aber in die Positionen, von denen aus man die Gipfel des Berufslebens sehen kann, hat es keine geschafft. Vermutlich wird das auch so bleiben.

Bei den Männern sieht es anders aus. Vorstandsassistent sei er, hört man von dem jähzornigen, vorlauten S., der gern auch noch in der Oberstufe wütend aus dem Klassenzimmer gestürmt ist, wenn ihm etwas nicht passte. Habilitieren wird sich irgendwann in den nächsten Jahren der T., wegen dessen Desinteresse an allen Fächern außer Deutsch, Latein und Geschichte Herr Dr. G., der cholerische Mathematiklehrer, fast am Schlaganfall gestorben wäre. Bei einer amerikanischen Großkanzlei verdient der C. jedes Jahr eine S-Klasse, und den anderen, von denen ich selten höre, geht es auch nicht schlecht.

Die Mädchen haben den Anschluss verloren.

Noch zu Studienzeiten sah das anders aus. Die Mädchen hatten die deutlich besseren Noten, waren meist auch nicht nur einseitig gut benotet, sondern saßen stets und in jedem Fach gut vorbereitet in den Seminaren, schrieben alles mit, und verließen die Uni mit Noten, die sich sehen lassen konnten. Zwar, und hier deuteten sich die ersten Brüche an, erwarteten die meisten Professoren nicht viel kreativen Ertrag von den fleißigen Bienen des Unibetriebs. Die Durchschnittsnoten der weiblichen Juristinnen waren gleichwohl mindestens ebenso gut wie die der männlichen Studenten, und auch im Referendariat erhielten die Frauen keine schlechteren Noten als die Männer. Freundlich und ausgeglichen sei die Referendarin, wurde gern testiert. Ihre Arbeiten seien voll verwertbar, die Zusammenarbeit angenehm, und so stellte der öffentliche Dienst die fleißigen Mädchen mit den guten Noten gern ein. Auch die Kanzleien sagten nicht nein, wenn die Noten stimmten, und in den Referendarzimmern der großen Kanzleien saßen Frauen und Männer zu ungefähr gleichen Teilen einträchtig nebeneinander und hackten lange Vermerke ins System.

Bei den ersten Jobs sah es schon anders aus. Was auch immer Frauen in den öffentlichen Dienst treibt – die Möglichkeit langer Kindererziehungszeiten oder die Sicherheit, die in weiblichen Kreisen ein ungeahntes und bei Männern seltenes Ansehen genießt – in denjenigen Berufen, die man gemeinhin mit Geld und Einfluss verbindet, bewarben sich weniger Frauen als Männer. In den ersten Berufsjahren, die die Spreu vom Weizen trennen, wie man sagt, gehören Frauen selten zur Spitze, denen viel zugetraut wird. Ordentliche Arbeiterinnen, aber zu Höherem nicht berufen, dürfte das Urteil sein, das die Vorgesetzten der fleißigen Mädchen fällen würden, wenn man denn diese Urteile ehrlich fällte, und so wird voraussichtlich keine dieser heute dreißigjährigen Frauen einmal Sitz und Stimme dort besitzen, wo die Macht zu Hause ist.

Nach klassisch feministischer Sicht der Dinge hält eine männliche Verschwörung Frauen davon ab, Positionen zu erreichen, die über den Job der akademischen Wasserträgerin hinausgehen. Tatsächlich jedoch tritt die Männerwelt keineswegs regelmäßig zusammen, um begabte und fähige Frauen von dem beruflichen Aufstieg abzuhalten. Statt dessen sabotieren sich die meisten Frauen ganz von selbst.

Ehrgeiz etwa gilt den meisten Frauen als eine Eigenschaft, der etwa derselbe Wert beigemessen wird wie Mundgeruch. Die wenigsten Frauen sind bereit, sich um eine Tagung oder ein Projekt förmlich zu prügeln, laut „hier“ zu schreien, und sich und ihre Leistung unternehmensweit anzupreisen. Die meisten Frauen erwarten vielmehr, dass Aufstieg und Gratifikationen ihnen angetragen werden, und harren der Beförderung wie eine Schülerin des Lobs des Lehrers. Während es aber der Aufgabe eines Lehrers entspricht, Fleiß und die ordnungsgemäße Erfüllung der Anforderungen zu gratifizieren, um zu besseren Leistungen anzuspornen, gehört dies nicht zum Stellenprofil eines Abteilungsleiters oder des Partners einer Kanzlei. Zudem ist es in der Schule oder Uni durchaus von Vorteil, wenn sich möglichst viele Schüler möglichst unauffällig in den Klassenverbund einfügen. In einem Team von lauter Leuten, die positiv auffallen wollen, ist Unauffälligkeit verständlicherweise nicht die beste Strategie. Wer den Anschein erweckt, die Stelle des fleißigen Fußvolks perfekt auszufüllen, qualifiziert sich in dadurch nicht automatisch zur Leitung dieses Fußvolks.

Den meisten Frauen ist diese Falle durchaus bekannt. Gleichwohl wird sich das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in Machtpositionen so schnell nicht ändern. Denn um die Beine der Frauen wickelt sich zumeist nicht eine persönliche oder generelle Unfähigkeit. Zum Stolperstein wird statt dessen das gründlich anerzogene Bedürfnis, von aller Welt gemocht und gelobt zu werden, und hier mag den Frauen auf die Füße fallen, dass das Anerkennungsbedürfnis der kleinen Mädchen in den meist grässlich tantenhaften Grundschullehrerinnen dankbaren Widerhall gefunden hat. Eine gute Schülerin war nicht das Kind, das konnte, was der Stoff vorgab. Eine gute Schülerin war dazu auch vernünftig, krakeelte weder wild durch den Raum, noch leistete sie sich unbeherrschte Anfälle gegenüber schwächeren Schülern oder träumte einfach ein paar Minuten in die Blätter der Kastanie auf dem Hof. Fachliche Anerkennung setze Anpassung an externe und nicht leistungsbezogene Erwartungen voraus, haben die meisten der guten Schülerinnen aus diesen Jahren mitgenommen. Fachliche Anerkennung im Berufsleben fußt aber reichlich oft auf dem Gegenteil von Anpassung, und gemocht zu werden ist im Preis meist nicht inbegriffen.

Gerade dies aber fällt vielen Frauen schwer. Als Mädchen macht man sich nicht eben beliebt, wenn man genau diejenigen Eigenschaften auslebt, die im Berufsleben nützlich sind: Ein ausgeprägtes Wettbewerbsdenken, den fairen Einsatz manipulativer Fähigkeiten, ein spielerischer Umgang mit den eigenen Fähigkeiten und dem Können anderer, und die Bereitschaft, es sich – wenn es sein muss – mit einem Haufen Leute von Grund auf und für immer zu verderben. Es zu ertragen, wenn man in den Feierabendgesprächen der Konkurrenz als aggressive Ziege figuriert. Dosiert unangenehm zu werden, und mit der Antipathie der Gesprächspartner zu leben. Es nicht zuletzt hinzunehmen, dass fachliche Überlegenheit es nahezu ausschließt, als feminin und attraktiv wahrgenommen zu werden.

Gemocht oder mächtig, lautet letztlich die Alternative, und solange die meisten Frauen diese Wahl mit allen ihren Konsequenzen scheuen – solange wird man sich wundern, warum den guten Studienleistungen, der angenehmen Zusammenarbeit und dem ganzen Drumherum, das am Ende doch nicht zählt, nicht viel nachkommt.

(Aber Frauen sind Macht und Erfolg, hört man, ja nicht so wichtig, nicht wahr, meine Damen?)

Montag, 12. Februar 2007

Sechsmal sonderbar

Wenn man gefragt wird, soll man antworten:

1. Ich finde Maschinen super und denke mir gern riesengroße Maschinen aus, wenn ich auf die Bahn warte oder mir ansonsten langweilig ist. Wegen vollkommener technischer Ahnungslosigkeit reicht es bei mir allerdings nur zu ziemlich einfachen Geräten – im digitalen Zeitalter bin ich noch nicht angekommen, weil ich nicht weiß, wie die Dinger funktionieren. Meine besondere Vorliebe gehört dabei den dampfbetriebenen Maschinen, so versuche ich seit Jahren ein komfortables, gern pflanzenölverbrennendes Gerät zu erfinden, mit dem man sich bequem am ganzen Körper gleichzeitig kratzen kann.

2. Mein Jähzorn richtet sich eigentlich nie auf erhebliches menschliches Versagen, sondern fast immer nur auf irgendwelche Petitessen, wobei man unerfreulicherweise (für mich und alle anderen Beteiligten) nie so ganz genau vorhersagen kann, auf welche. So bin ich bei Kaisers am Teutoburger Platz einmal total explodiert, als es da am Samstag um kurz vor acht keinen Waldpilzfond zu kaufen gab. Beim Friseur bin ich auch mal völlig außer mich geraten, weil ich – ohne Termin erschienen – mehr als 45 Minuten warten musste. Bei P&C dagegen habe ich mal vor Wut angefallen zu heulen, weil irgendwas nicht gepasst hat. An anderen Tagen lassen mich solche Vorfälle völlig kalt.

3. Weil ich in meiner früheren Jugend irrsinnig viele Gedichte auswendig lernen musste, leide ich bis heute an ziemlich grotesken Ohrwürmern, deren Inhalt sich aus dem deutschen Gedicht- und Balladenschatz speist. Als ich das letzte Mal beim Zahnarzt war, sagten ansonsten wenig gefragte Persönlichkeitsbestandteile die ganze Zeit Schillers „Gang nach dem Eisenhammer“ auf.

4. Bekanntlich habe ich einen Mordsminderwertigkeitskomplex, der mit meiner äußeren Erscheinung zu tun hat. Ein besonderer Aspekt, der – wie vielfache Nachfragen bei anderen Leuten ergeben haben – von anderen Menschen offenbar nicht geteilt wird, richtet sich dabei auf die Symmetrie meiner beiden Körperhälften. Ich habe mehrfach versucht, das mal messtechnisch zu verifizieren, es ist mir aber nicht gelungen.

5. Wenn ich mich an etwas erinnern kann, was mein Gegenüber vergessen hat, egal was, ist mir das peinlich, und ab und zu tue ich dann so, als hätte ich es auch vergessen.

6. Wenn ich krank bin, höre ich ich sofort auf, feste Nahrung zu mir zu nehmen, völlig egal, ob die Krankheit den Verdauungstrakt überhaupt betrifft oder ich mir den Arm gebrochen habe. Ich esse dann nur noch so Sachen wie Hühnersuppe oder Kartoffelbrei mit Butter, und vermeide alle starken Aromen wie Curry, Knoblauch, Chili oder Sesam. Auf welche unterbewussten Annahmen in Zusammenhang mit der Natur von Krankheiten diese Gewohnheit zurückgeht, ist mir bis heute unklar.

Ach ja - fang!

Sonntag, 11. Februar 2007

Am kalten Fuß der Mittagsberge

They are not long, the days of wine and roses:
Out of a misty dream
Our path emerges for a while, then closes
Within a dream.

Ernest Dowson, Vitae Summa Brevis

Als hätte jeder Mensch ein bestimmtes Lebensalter, das seinem Wesen, seinen Fehlern und seinen Vorzügen am ehesten entspräche, stellt man sich den Heiligen Augustinus stets etwa dreißigjährig, den Heiligen Thomas von Aquin dagegen als einen Mann von fünfzig Jahren vor. Schopenhauer, denke ich mir, muss Zeit seiner Tage ein alter Herr gewesen sein, mit einem Leber- oder Gallenleiden, und trotz des zarten Jugendphotos, das wir kennen, lebt Virginia Woolf in meiner Vorstellung als eine ungefähr vierzigjährige Frau, die leise, artistische Romane schreibt, deren Körperlosigkeit etwas Gedämpftes anhaftet: Eine langsam ergrauende Dame, die leise spricht und auf flachen, bequemen Schuhen zügig spazieren geht.

Über den, den wir uns alt oder jung, schnell oder langsam denken, mag dieses Bild nicht viel mehr verraten als über uns als Betrachtende, und so ist der goldene Knabe der Jahrhundertwende, Hugo von Hofmannsthal, offenbar post mortem noch ein wenig gealtert, und zeigt sich uns nun als der soignierte, immer etwas bekümmerte Herr, nicht unähnlich dem dann doch gröberen Stefan Zweig, wie er mit der gar nicht so zarten Hand eine Cognacschwenker wärmt oder frauenhaft glucksend lacht, vorgebeugt sitzend in einem chintzbezogenen Sessel.

Allen Schwankungen, allen Verschiebungen der Sicht zum Trotz erscheint es uns aber, als habe jeder, dessen man sich erinnert, nur wenige Jahre durchlebt, in denen er ganz auf der Höhe, ganz bei sich gewesen sei: Die Mittagsjahre, der Zenit, die Vollendung, denen ein langsames Abebben nachfolgt, oder ein jähes Ende, als hätte jemand plötzlich eine Taste gedrückt oder den Stecker gezogen. - Ganz so oder ähnlich, denke ich mir dann, werden auch wir, die wir nur die Ebenen bereisen, unsere besten Jahre haben, die Mittagshitze unseres kleinen Tages, die wenigen Jahre, in denen wir dem warmen Strom am nächsten wohnen, und wir am ehesten dem, was wir können und sind, ähneln oder gleichen.

Aber manchmal, in der M 10, wenn der Schnee an den Scheiben schmilzt, treibt es einen um, ob nicht die besten Jahre schon hinter uns liegen, und das, was schon war, nicht mehr erreicht werden wird von dem Kommenden, sondern wir nur immer weiter treiben, ruderlos, der Dunkelheit entgegen, ein täglich verblassender Abglanz unseres Seins, der Kadaver unserer Möglichkeiten, und einfach nur noch da:

Wer weiß schon, wozu.

Montag, 5. Februar 2007

Die Stadt ist immer woanders

Der Club ist leer. Außer uns sitzen ein paar Versprengte am Tresen und fingern an ihren Bierflaschen herum, und an der Hinterwand läuft ein Film, den niemand betrachtet. Nach Hause hätte ich fahren können, meditiere ich aus dem Fenster heraus auf die dunkle Brunnenstraße. Ein heißes Bad, besseres Essen als der fettige, salzlose Bratreis ein paar Häuser weiter, Geschichten, deren Ende ich noch nicht kenne, und dann schlafen, schlafen – vielleicht träumen.

Die Stadt ist immer woanders, fällt es mir ein, und derjenige, der sich mit diesem Satz für einen viel zu langen, viel zu langweiligen Abend entschuldigte, als sei es nicht seine Schuld gewesen und nicht die meine. - Geh nach Hause, blinzelt der träge Montagabend mir zu, und ich ziehe ein letztes Mal an meiner Zigarette und gehe langsam, Schritt für Schritt die Invalidenstraße aufwärts, vorbei am Magnet Mitte, vorbei am Bergstübl, an der Weinerei, und an all den anderen leeren Orten.

Die Stadt aber schläft woanders.



Benutzer-Status

Du bist nicht angemeldet.

Neuzugänge

nicht schenken
Eine Gießkanne in Hundeform, ehrlich, das ist halt...
[Josef Mühlbacher - 6. Nov., 11:02 Uhr]
Umzug
So ganz zum Schluss noch einmal in der alten Wohnung auf den Dielen sitzen....
[Modeste - 6. Apr., 15:40 Uhr]
wieder einmal
ein fall von größter übereinstimmung zwischen sehen...
[erphschwester - 2. Apr., 14:33 Uhr]
Leute an Nachbartischen...
Leute an Nachbartischen hatten das erste Gericht von...
[Modeste - 1. Apr., 22:44 Uhr]
Allen Gewalten zum Trotz...
Andere Leute wären essen gegangen. Oder hätten im Ofen eine Lammkeule geschmort....
[Modeste - 1. Apr., 22:41 Uhr]
Über diesen Tip freue...
Über diesen Tip freue ich mich sehr. Als Weggezogene...
[montez - 1. Apr., 16:42 Uhr]
Osmans Töchter
Die Berliner Türken gehören zu Westberlin wie das Strandbad Wannsee oder Harald...
[Modeste - 30. Mär., 17:16 Uhr]
Ich wäre an sich nicht...
Ich wäre an sich nicht uninteressiert, nehme aber an,...
[Modeste - 30. Mär., 15:25 Uhr]

Komplimente und Geschenke

Last year's Modeste

Über Bücher

Suche

 

Status

Online seit 7732 Tagen

Letzte Aktualisierung:
15. Jul. 2021, 2:03 Uhr

kostenloser Counter

Bewegte Bilder
Essais
Familienalbum
Kleine Freuden
Liebe Freunde
Nora
Schnipsel
Tagebuchbloggen
Über Bücher
Über Essen
Über Liebe
Über Maschinen
Über Nichts
Über öffentliche Angelegenheiten
Über Träume
Über Übergewicht
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren