Montag, 20. April 2009

Stockholm

In Schweden war ich ja sozusagen zweimal. Beim ersten Besuch war ich schätzungsweise sieben, es war Sommer, und alles, woran ich mich erinnere, ist ein Sturz vom Küchentisch, spektakulär und ziemlich blutig. Es muss trotzdem lustig gewesen sein, denn auf den wenigen Photos dieses Urlaubs strahle ich mit einem Mund voller Milchzahnlücken vor einer Kulisse aus Strandhafer und blaublitzendem Himmel in einem roten Badeanzug in die Kamera. In diesem Urlaub waren wir - aber das habe ich alles vergessen - auch in Stockholm. Für einen Tag.

Beim zweiten Schwedenbesuch war ich 17. Mein damaliger Freund wollte angeln, er wollte nach Schweden, er hatte alles organisiert, und weil ich den Plänen von Leuten, die alles organisieren, aus schierer Faulheit nur selten widerstehen kann, fuhr ich mit. Wir waren - das war mir im Vorfeld irgendwie entgangen - vom Meer bestürzend weit weg. Wir saßen zu zweit in einem kleinen Holzhaus, das wirklich aussah wie Bullerbü, nur ohne Nachbarn, und neben dem Haus war ein sehr, sehr großer See, aus dem mein Freund grüne, schleimige Fische zog, tötete und grillte. Sie waren alle exorbitant trocken und schmeckten nach Holzkohle und Ketchup.

Weil sich am See außer dem Haus und meinem angelnden Freund noch sehr viel Wald befand, war alles voller Mücken. Ich las mit Insektenstichen dicht gesprenkelt von morgens bis abends, unter anderem sehr viel Strindberg und Tucholskys Gripsholm, weil das so schwedisch war, aber in der Einöde mit meinem Freund und den Fischen erinnerte leider nichts an die sexy Sommerfrische des dicken Dichters aus Berlin. Es hat dann auch nicht mehr lange gedauert mit meinem Freund und mir.

Im Juni - also in so circa acht Wochen - versuche ich es noch einmal mit Schweden. Geangelt wird diesmal nicht. Zahnlücken habe ich derzeit keine. Einen Flug habe ich immerhin. Ein Hotelzimmer in Stockholm, fünf Freunde kommen mit, und niemand von uns weiß mehr von Schweden als das, was man so landläufig über Skandinavien denkt: Teurer Wein denkt man. Riesige, blonde Menschen. Weiße Nächte Ende Juni (oder war das Russland?). Ikea, H&M, Astrid Lindgren, skandinavisches Design, aber ob es da etwas zu sehen gibt, was man so macht, tagsüber und abends, wenn man drei Tage in Stockholm ist, was es zu essen gibt und wo man das essen sollte - das wissen wir alle nicht.

Für Tipps bin ich daher dankbar.

Sonntag, 19. April 2009

In Würde altern

"Der Lack ist ab.", kommentiert der M. unseren kollektiven Zustand und liegt damit absolut richtig. Das Berufseinstiegsfett, das jeder ansetzt, wenn er seinen ersten Job mit Besprechungskeksen und fettem Business Lunch antritt, wird rund um den Tisch mehr statt weniger. In den irgendwann mal dunkelblonden Haaren des M. sieht man inzwischen ziemlich viele graue Haare und ein bißchen Kopfhaut, und der S., schräg gegenüber an diesem Terassentisch am Ende der Welt entlang der Radstrecke 1 aus S. schlauem Buch über Fahrradfahren in Berlin, hat haupthaarbezogen inzwischen einen Zustand erreicht, den man als "meliert" bezeichnen könnte.

Die I., sagt sie, bekäme langsam feine Fältchen auf der Oberlippe, und die M., wie ich höre, an den Augen. Wenn ich morgens aufwache, wirke ich seit ein, zwei Jahren schon ziemlich zerknittert, weil meine generelle Spannkraft halt nicht mehr dieselbe ist wie vor zehn Jahren, und dass der Kellner in diesem Ausflugslokal irgendwo in der Nähe des Tegeler Sees uns siezt, liegt vermutlich nicht nur daran, dass das "Sie" hier allgemein gebräuchlicher ist als im heimischen Prenzlauer Berg: Ich bin auch in den Innenstadtbezirken inzwischen mehrfach zurückgesiezt worden, wenn ich - unbedacht, man ist ja noch nicht lange alt - Verkäuferinnen oder Kellnerinnen geduzt habe. Man fühlt sich dann immer ein bißchen peinlich und plump.

"Da kommt jetzt nicht mehr viel Neues bis zur Rente.", behauptet die M. ein paar Stunden später in meiner Küche, in der ich Pasta für alle koche, und ich rühre wortlos in der Pfanne mit den Möhren und dem Sellerie, weil mir nichts einfällt, was ehrlich klingt, aber nicht ganz so deprimierend.

Mittwoch, 15. April 2009

Im Dekorationstheater

Shakespeares Sonette im Berliner Ensemble

Es gehört zu den sonderbaren und eher etwas befremdlichen Seiten von Robert Wilsons Theaterkunst, alle Protagonisten in die Gestalten eines jener Kinderbücher zu verwandeln, die unter Rückgriff auf historische Kostüme deren Eigenheiten ins Groteske verzerren. Aus Pluderhosen werden also wahre Ballons, und Keulenärmel erschlagen fast denjenigen, der sie anhat.

Nun ist das Drollig-Puppenhafte ja nun nicht ganz ohne Gefahr für ein Stück, und dann, wenn es – wie aktuell am Berliner Ensemble – nicht um ein Märchenspiel geht, sondern um 24 der Sonette Shakespares, bleibt von der Verzweiflung, der Vergeblichkeit, der Gier und dem Wüten der Liebe nichts über ein lustiges, sehr, sehr harmloses Herumtrippeln in einer wahrhaft erschreckenden Fülle der Bühnenbilder. Man kichert also wie ein ziemlich beschwipster Kindergeburtstag. Gegenstände und Personen fliegen an Schnüren herum, ein fetter Amor tanzt und singt aufs Allerpossierlichste, man wechselt die Bühnenbilder öfter als Paris Hilton die Handtaschen, und die gelegentlich charmante, gelegentlich auch nur ein wenig banale Musik des ansonsten ja sehr schätzenswerten Rufus Wainwright macht die Sache dann auch nicht mehr besser.

Ich habe mich gelangweilt. Und zwar nicht zu knapp und das auch gleich über drei Stunden.

Montag, 13. April 2009

Von einem Glück aus Sinken und Gefahr

Sie war damals vielleicht 45. Sie hatte eine Praxis, sie hatte einen Sohn, und der Sohn hatte eine Freundin. Das war ich. Sie bewohnte mit ihrem Sohn ein kleines weißes Haus in der Innenstadt, das sehr alt und ganz schmal war, auf jeder Etage nur einen großen Raum oder zwei schmale. Insgesamt gab es sechs Zimmer, wenn ich mich richtig erinnere, die angefüllt waren mit Büchern und alten Karten, Silberleuchtern aus Riga und roten persischen Teppichen. Im Treppenhaus hing ein riesiges, etwas gespenstisches Bild von Gerhard Richter, und in ihrem Arbeitszimmer gab es drei Ikonen, die ihr Großvater aus Russland mitgebracht hatte, als er Petersburg 1917 verließ.

Sie war sehr groß, sehr schlank und sehr blond. Sie rauchte Zigarillos, sie konnte lachen wie ein Kutscher oder eine Elfenprinzessin, je nachdem, und wenn sie einen Raum betrat, waren alle anderen Frauen von einer Sekunde auf die andere durchsichtig und blass und eigentlich gar nicht mehr da. Besonders viele Freundinnen hatte sie deswegen nicht, aber Freunde dafür umso mehr. Wenn sie einen Freund über hatte, warf sie ihn raus.

Mich mochte sie. Manchmal zog sie mich an der Hand aus dem Zimmer ihres Sohnes, der auf dem Bett lag, schwieg, las und rauchte. Ich erinnere mich an Stapel von Büchern neben seinem Bett, Tschechow und Rilke. Mutter und Sohn sprachen nicht eben viel miteinander, genau genommen sprach mein Freund überhaupt und mit niemanden viel, aber mit seiner Mutter sprach er nicht nur einfach so sehr wenig, sondern schwieg aus Prinzip. Als er wegzog, fünf Jahre später, kam er jahrelang nicht zu Besuch und rief nicht mal zu Weihnachten an. Ihren Geburtstag, behauptete er, habe er vergessen.

Ich vergaß ihren Geburtstag nicht. Ich rief sogar noch an, als ich zwanzig war und mit ihrem Sohn seit vier Jahren nicht mehr zusammen. Sie lachte dann immer ein bisschen gerührt und sprach gelegentlich von den Nachmittagen, als sie mir Champagner mit ein bisschen purpurfarbenem Likör in kleine, geschliffene Gläser goss und mich in ihrem halbdunklen Schlafzimmer mit alten Kleidern aus vielen Jahrzehnten an- und auszog wie eine Puppe: Ein kleines Schwarzes, zu dem sie mir lange Perlenketten umlegte, die bis zum Nabel gingen. Ein langes, dunkelrotes Kleid aus Taft, zu dem sie mir die Haare hochsteckte und eine Stoffrose aus einer Hutschachtel zog, die sie mit Haarnadeln über meinem linken Ohr befestigte. Ein Smoking über einem weißen Bustier. Ein altrosa Kleid ohne Träger, zu dem ein breiter Paillettengürtel gehörte, den sie mit Sicherheitsnadeln befestigte, damit er nicht verrutschte.

Zu jedem Kleid erzählte sie mindestens eine Geschichte, in der meistens ein Mann vorkam, immer ein Abend oder eine Nacht, und alle Geschichten, die sie erzählte, hörten sich an, als sei die Liebe nicht etwas, das mit schweigenden, rauchenden Lesern zu tun hatte, die so bedächtig ihre Inselbändchen in der Hand wogen, als komme es darauf an, ihr Gewicht aufs Gramm festzustellen. In ihren Geschichten schien die Liebe mit dem Meer verwandt zu sein, mit Schärfe, mit Salz und der Kälte von Gischt. Männer kamen vor, die gefleckt schienen vor Wildheit und geduckt vor Hass und Begehren. Etwas Metallisches meinte ich damals zu spüren: Einen Geschmack von schwerem, tödlichen Eisen, von Rost und frischem, hellrotem Blut.

Sehr verwirrt kam ich ein oder zwei Stunden später die Treppen wieder hoch und legte mich zu meinem Freund. Meistens las er, gelegentlich schlief er auch, und nie fragte er mich, was seine Mutter mir erzählte oder was wir taten, wenn wir in ihrem Schlafzimmer verschwanden. Kurzsichtig und immer etwas müde streichelte er mir mit der linken Hand über den Rücken, sein Buch fixiert mit einem Kissen, und eine Zigarette zwischen dem Daumen und dem Zeigefinger seiner Rechten. Warme Hände hatte er, das weiß ich noch, und die Hände vermisste ich am meisten, als ich nicht mehr kam, ein paar Monate später, weil das dort die Liebe nicht sein konnte: Ein bisschen Wärme und eine liebevolle Nachlässigkeit und nichts von Sinken, Gefahr und Verhängnis. Es warte, wenn ich nur suchte, noch etwas Anderes auf mich, nahm ich an und atmete der Liebe entgegen.

Mit den Jahren aber kam und ging die Erwartung wie Ebbe und Flut, doch das Meer blieb still. Ab und zu lehnte ein Schatten in der Tür, lächelte, zeigte mir seine Zähne, die schlanken, blutigen Hände, wartete vergebens und zog wieder ab. Wer kam und blieb, hatte warme Hände, war freundlich, und roch nach Holz, nach Zimt vielleicht, aber nie nach Meer, nach Blut oder Eisen.

Das sei gut so, sagte ich mir irgendwann, und das Eine das Andere mehr als wert. Nicht zu ändern sei das alles zudem, denn die Liebe ist ein Talent wie jedes andere auch, und wer für das Warme begabt ist, ginge im Scharfen, Kalten, wo die Messer sich drehen, wohl unter. Alles sei daher bestens, wie es nun ist, sage und glaube ich mir, und doch kann ich Jahr für Jahr, in den ersten, wärmeren Nächten spüren, wie etwas vorübergeht, zum Greifen nah, nur eine Armeslänge entfernt, und ein Duft in der Luft liegt, betäubend und süß und scharf, aber nicht für mich.

(Ich wüsste gern, wie es ihr geht. In ein paar Tagen hat sie Geburtstag.)

Freitag, 10. April 2009

Nabelschau

Manche Traumata sind ja eines Tages einfach da, und dann braucht man Jahre beim Therapeuten, um sich zu erinnern, wie alles so kommen konnte, wie es gekommen ist. In manchen anderen Fällen – etwa meinem ganz persönlichen Bikiniproblem – dagegen ist der Sachverhalt klar:

Man stelle sich also eine dreizehnjährige Modeste vor. Mittelgroß, mittelschlank, langhaarig, aufs Scheußlichste bebrillt, und das ganze Wochenende allein zu Haus. Es ist Juni. Vor dem Fenster des Kinderzimmers (orangefarbener Teppichboden, Kiefermöbel) schwanken die Äste eines Obstbaums hin und her. Im Garten, ein Stockwerk tiefer, läuft der Hund durch die Beete und schnappt vergeblich nach Insekten. In der Küche stehen Erdbeeren im Kühlschrank, in der Obstschale liegt ein bisschen Geld für etwas zu Essen, und neben meinem Bett liegt ein Haufen Zeitschriften, die meiner Mutter gehören. Brigitte war, glaube ich, dabei. Madame, Cosmopolitan und die Vogue.

Auf die Idee, man könne ähnlich aussehen wie die Frauen in der Zeitung, bin ich, glaube ich, gar nicht ernsthaft gekommen. Nicht einmal die ausgestellten Kleidungsstücke wollte ich haben, aber dass die Frauen in der Zeitung richtig aussehen, voll und ganz und unerreichbar regelgerecht, das war mir klar, und so stand ich auf, wühlte in dem Rucksack neben meinem Schreibtisch nach einem Lineal und dem Taschenrechner, und vermaß die abgebildeten Damen vertikal wie horizontal, setzte die Länge der Hochglanzfrauen in Relation zur eigenen Größe und setzte anhand der abgebildeten Schönheiten den Maßstab der eigenen Schönheit fest. Dann stand ich auf und ging zu meinen Eltern. Genauer gesagt: In ihr Schlafzimmer. Da stellte ich mir vor den Spiegel.

Was ich sah, gefiel mir nicht. Noch schlimmer: Es stimmte – nachgemessen mit einem Zentimetermaß – auch in keiner Weise mit dem Maßstab der Schönheit überein, den ich mir aufgeschrieben hatte. Zum einen beruhte das auf einem schon damals bedauerlichen Übergewicht, zumindest gemessen an der Sollvorstellung, welche für Frauen gilt, die in Zeitschriften abgebildet werden. Zum anderen aber waren auch die grundsätzlichen Proportionen meines Körpers verhältnismäßig weit weg von dem Zustand, wie er hätte sein sollen. Die Beine waren zu kurz, die Arme etwas zu lang, und mein Bauchnabel war zu hoch. Deutlich zu hoch: Anstatt mittig knapp oberhalb der Hüftknochen, saß und sitzt mein Nabel circa fünf bis sieben Zentimeter näher am Brustkorb. Ich war erschüttert.

Eine operative Verlegung des Bauchnabels kam schon aus Kostengründen keineswegs in Betracht. Einen Freund, vor dem es sich unbekleidet zu präsentieren gelten würde, würde ich mit diesen Proportionen, nahm ich an, ohnehin nicht einmal angezogen von mir überzeugen können. Die einzig bedenkliche Situation war damit der Strand, oder zumindest die Badestelle um die Ecke. Ziemlich belämmert und mit hängendem Kopf begab ich mich also wieder in mein Kinderzimmer und knüllte meinen ersten, vor wenigen Wochen erstandenen roten Bikini mit den weißen Punkten in der Sportbekleidungsschublade ganz nach hinten. Im folgenden Sommer trug ich also wieder Badeanzug.

Einen weiteren Bikini habe ich nie erworben.



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