Freitag, 29. Mai 2009

Journal :: 29.05.

Alle Schaufenster sind voller Chucks. Meine Chucks indes sind verschwunden, einfach und spurlos weg, und vergeblich frage ich mich, wie ein paar türkisblaue Schuhe sich einfach in Luft auflösen können. Sonderbarerweise ist offenbar genau das passiert.

Weil alle Schaufenster voller Chucks stehen, halte ich das aber für kein Problem. Ich gehe also ins nächste Geschäft, ich frage nach neuen Chucks - beige sollen sie sein, Größe 37 - und sehe die Verkäuferin fragend an. Sie nickt und geht nach hinten. Fünf Minuten später erhalte ich die Auskunft, die Schuhe seien aus. Verkauft, nie bestellt - jedenfalls: Nicht mehr da.

Ich gehe ins nächste Geschäft. Ich frage, die Verkäuferin nickt, alles wiederholt sich: Die Schuhe sind weg. - Bin ich in der DDR?, frage ich mich. Das großartige an der Marktwirtschaft ist doch, dass jeder Nachfrage auch ein Angebot gegenübersteht, aber es bleibt auch im dritten Geschäft dabei: Keine Chucks in beige. Keine Größe 37. Leicht belämmert ziehe ich ab. Vor lauter Frustration kaufe ich eine dieser neuen, taillierten Barbour-Jacken, die viel besser aussehen als die klassischen Jacken, von denen ich eine seit fast zehn Jahren trage, weil sie immer schöner wird mit jedem Jahr. Chucks aber sind hier nicht zu wollen.

Die Marktwirtschaft ist auch nicht mehr das, was sie mal war.

Journal :: 28.05.

Auf einem Sofa zu liegen, Erdbeeren zu essen, rot und prall und tropfend vor Saft. Sich wundern, dass die Natur etwas hervorbringt, was so perfekt ist wie das, sich die Lippen zu lecken, benetzt mit süßem Saft, und die Zunge in die Höhlung inmitten der Erdbeere zu drücken.

Die Erdbeerschüssel auf den Bauch zu stellen und die Bauchmuskeln anzuspannen und sich zu freuen, wie die Schüssel auf und nieder wippt. Eine ganz besonders große Beere auszusuchen, abzubeißen und wohlgefällig die halbe Frucht zwischen zwei Fingern zu drehen, anzuschauen und mit der Zunge zu zerdrücken, die Augen zu schließen und darüber nachzudenken, dass jede Beere nur Tage existiert von der Reife zum Verderben, und - wie alles, was es gibt - mit Liebe gegessen werden sollte, mit Aufmerksamkeit und Sorgfalt, wie heute auf dem Sofa und nur selten sonst.

Donnerstag, 28. Mai 2009

Journal :: 27.05.

Im EC aus Wien gibt es noch Sechserabteile. In den Abteilen gibt es Cordsitze, vor den Abteilen hängen Vorhänge, und im Abteil bin ich ganz allein. Vor mir hat jemand Bier getrunken und die Kronen-Zeitung gelesen, aber bis Hamburg stört niemand meine Ruhe.

Ein bißchen lese ich, ein bißchen singt Lotte Lehmann Richard Strauss, und vor den Fenstern sinkt die Sonne über der unfassbaren Leere hinter Berlin. Schnurgerade streben die Ackerfurchen grau vom Schienenstrang zum Horizont, in strenger Linie reihen sich die Ähren, und selbst die Bäume wirken zurückgenommen und hager. Der Boden staubt.

Wie es wäre, hier zu leben, male ich mir aus und stelle mir etwas Wortloses vor, schmallippig und hart. Was die Leute hier wohl abends machen, wovon sie träumen, was sie sich erhoffen, und ob sie finden, wonach sie suchen, frage ich mich. Man weiß am Ende gar nichts von anderen Menschen, stelle ich fest, und niemand sagt einem, wie es ist, hier groß zu werden, nicht fortzugehen und später hier - was? - zu werden. Was die Menschen, überlege ich weiter, hier hält. Was sie denken über Leute wie mich und meine Freunde. Ob man hier etwas verpasst, was wir finden in den großen Städten, und auch: Was man findet, im Nichts um Berlin, in den Furchen der Äcker und am Rande der stillen Alleen, wovon ich nichts weiß und nichts wissen werde und vielleicht: Nichts wissen kann.

Dienstag, 26. Mai 2009

Journal :: 26.05.

Die Straßen sind noch naß, als ich das Büro verlasse. Es ist wärmer, als ich angenommen habe in meinem klimatisierten Büro. Die Luft ist reingewaschen vom Regen, und die Stadt schimmert vor Feuchtigkeit und Frische.

Wie ein Abend am Meer fühlt Berlin sich an, als ich fahre. Windig und weich streicht mir die Luft um die Beine, und die Flusen der Pappeln sind endlich verschwunden. Erleichtert um den Druck des schwül-warmen Morgens lächeln die Radfahrer einander zu an den Ampeln, und der Sommer breitet weit die Arme aus, als sei es abgemachte Sache, dass nach Donner und Blitz, nach Mühen und den Wirren langer Tage ein Fest auf mich wartet, Fontänen und Feuerwerk, und die Blüten der Bäume sich öffnen, voll von Honig, von Duft und saftigen Früchten im Herbst.

Montag, 25. Mai 2009

Journal :: 25.05.

Heute nacht gibt es Milch. Die Milch entspringt einer Quelle, die sich in meiner Wohnung befindet und äußerst ergiebig zu sein scheint. In dickem Strom fließt die Milch in alle Räume, ich freue mich ganz über die Maßen, tauche meine Finger in die schneeweiße, schäumende, duftende Flüssigkeit und lecke jeden einzelnen Finger ab. Die Milch schmeckt süß und cremig.

Über die Schwellen meiner Wohnung strömt die Milch, ergießt sich über den roten Sisal der Treppe, füllt das Treppenhaus hüfthoch an, und halb rutschend, halb schwimmend, gerate ich auf der Milch erst an die Haustür und dann auf die Straße, die erst nur feucht, dann nass und dann über und über überschwemmt wird mit der Milch, die Strudel bildet, spritzt, Wogen brechen sich an den Fassaden der Häuser, und kleine Kinder, Hunde und Erwachsene in Kleidern und Anzügen stürzen sich jubelnd in die Flut.

Bis zur Brust versunken reißen die Menschen sich die Kleidung vom Leib, die - schwarz auf der weißen Oberfläche - erst ein wenig treidelt, dann schwer wird und versinkt. Fremde Menschen reiben sich gegenseitig mit der Milch ein, formen die Hände zu Schalen und füttern einander. Die Sonne wird wärmer und wärmer, der Geruch der Milch wird immer intensiver, und als ich so glücklich bin vor lauter Milch, dass ich denke, mehr gehe nimmer auf Erden, wache ich auf. Es ist 8.25, und die Milch ist verschwunden.

Sonntag, 24. Mai 2009

Journal :: 24.05.

Auf dem Weg zum Märchenbrunnen denke ich weiter über Siri Hustvedts Roman nach. Dass es stets riskant ist, wenn Autoren Kunstwerke etwas zu genau beschreiben, die ihre Protagonisten schaffen, fällt mir ein, ungefähr so, wie die wenigsten Schriftsteller ihren Geschöpfen einen Gefallen tun, wenn sie die Behauptung, jemand habe Humor, mit Beispielen unterlegen. Ist man nicht gerade Oscar Wilde (und wer ist schon Oscar Wilde?), dann geht das schief, und so belegen auch die seitenlangen Beschreibungen der Werke des Malers William Wechslers, der einen männlichen Hauptfigur von Was ich liebte, die Faszination nicht, die sie auf den Ich-Erzähler Leo Hertzberg ausüben.

Angenehm temperiert, filigran und doch glaubhaft wirken dagegen die Beziehungen der vier New Yorker untereinander: Das Ehepaar Erica und der Erzähler Leo, das in einer Art sorgsam gedrosseltem Glück miteinander lebt, bis das gemeinsame Kind bei einem Umfall stirbt. Das benachbarte, befreundete Paar William und Violet, der eine kühle, gläserne, erste Frau vorausging. Lucille. Das Altern beider Paare, die Beziehungen untereinander wie deren Veränderungen. Was Freundschaften sind, und vor allem: Was und worüber die Protagonisten arbeiten, denn tatsächlich irritiert mich an der deutschen Literatur der Gegenwart nicht selten, dass ihre Helden entweder gar nicht, oder irgendetwas sehr Seltsames tun, um ihre Miete zu zahlen. Etwas kupiert wirkt das nicht selten, denn das Leben der Menschen wird durch seine wirtschaftliche Seite ja meist nicht wenig geprägt. Zudem finden auch die großen Themen im Leben der Menschen zu einem ganz erheblichen Teil in beruflichem Kontext statt, und so empfinde ich es als angenehm, über die rund dreißig Jahre am Ende des letzten Jahrtausends, die der Roman umfasst, stets informiert zu bleiben, worüber die vier Hauptpersonen arbeiten und was sie denken. Insbesondere die psychohistorischen Arbeiten Violets nehmen so viel Gestalt an, dass ich sie gern gelesen hätte. Joachim Radkau fällt mir dazu ein, der vor circa zehn Jahren eine nicht unanfechtbare, aber lesenswerte Geschichte der Nervosität vorgelegt hat, die die pathologischen Auswirkungen des Vitalismuskultes im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik in Beziehung zu den Reaktionen und Entwicklungen seiner Entscheidungsträger gesetzt hat.

Etwas künstlich wirkt der Themenwechsel im letzten Drittel des Buches. Der Todesfall des kleinen Jungen von Leo und Erica und die schmerzlichen, erstarrten Reaktion der Eltern hierauf wirken noch sehr gelungen dem Fluß des Lebens entnommen. Dann aber wendet sich Hustvedt dem Werdegang des Buben von Lucille und William zu, der spektakulär missrät, sich in den Raves der Neunziger verliert, Drogen nimmt, pathologisch lügt und schließlich im Umfeld eines ebenso verdorbenen wie lächerlichen Künstlers in einen Mordfall verwickelt wird. Das Motiv des Bösen, des seine Eltern verzehrenden Wechselbalgs wird hier etwas zu stark betont, so, als habe Hustvedt am Ende ihrer Geschichte noch einen stärkeren Akzent setzen wollen, dessen es nicht bedurft hätte, um eine gute Geschichte über das Leben zu erzählen, seine Abgründe und Verwerfungen, die Nähe zu Nacht und Nichts in unseren scheinbar sonnigen Straßen, und dass es sich trotzdem lohnt, sich zu lieben und zu befreunden, einander gut zu sein, auch wenn, was wir tun können, nichts hilft gegen das Chaos, die Zeit und die Dunkelheit, die - doch scheinbar nur - stets stärker sind als wir.

Siri Hustvedt
Was ich liebte
2003

Journal :: 23.05.

Keiner weiß, was die Berliner Brasilianerinnen beruflich gemacht haben, bevor eine nach der anderen Enthaarungsstudios eröffnet hat. In jeder Straße gibt es ungefähr zwei. In den meisten Studios werden auch andere kosmetische Behandlungen angeboten, aber keins der Studios, stelle ich fest, will mich verschönern. Zumindest nicht heute: Da, wo ich einen Termin habe, ist die Kosmetikerin erkrankt, da wo ich keinen Termin habe, ist keiner mehr frei, und so sitze ich haarig und mit schief geschnittenen, splitternden Nägeln mit Rillen auf meinem Bett und rufe irgendwo an. Zwischendurch gehe ich eine Stunde zum Pilates, kaufe kurz ein, und dann telefoniere ich weiter. "Ich kann so kaum vor die Tür!", versuche ich die Angestellten von Kosmetikstudios zu überzeugen, an mir ein wohltätiges Werk zu tun, und schließlich bin ich erfolgreich. Es war das achte Telefonat.

Eigentlich mag ich keine Kosmetikstudios mit medizinischer Aura. Ich mag die Alte-Damen-Läden mit Tüllgardinen und dicken Puderquasten und Zerstäubern aus buntem, geschliffenem Glas, in denen es nach Lavendelwasser riecht. In meiner Situation indes wäre ich sogar in die Charité gefahren, wenn man mir da die Fußnägel schneiden würde. Ich schließe also fest die Augen und überlasse mich in durchaus klinikähnlichem Interieur einer Braslianerin mittleren Alters, die alles über Fernsehserien weiß, in denen Mädchen Models werden wollen. "Ich dachte, Modeln ist seit den Neunzigern vorbei?", frage ich irgendwann, aber liege offenbar falsch. Die Kosmetikerin findet Models super.

In der Nachbarkabine quatscht ganz offensichtlich eine schon vor zehn Jahren eher mittelmäßg geschätzte Studienkollegin irgendetwas Irrsinniges über Kunst. Die Kosmetikerin spricht über ein Mädchen, das einen Preis für gutes Aussehen gewonnen hat, und in der ZEIT erbost sich Adam Soboczynski über die verderblichen Auswirkungen der Dummheit derjenigen, die sich im Internet äußern, als sei die Dummheit mit dem Netz entstanden, und nicht vom Anbeginn der Welt an dagewesen und artikuliere sich jetzt nur halt etwas lauter. Ein steter Quell des Entzückens über Dummheit und fehlende Distanz zu eigenen Positionen ist mir in diesem Zusammenhang - hier soll es einmal erwähnt werden - übrigens das Kommentatorenwesen auf FAZ.NET: Ein verlässlicher Garant guter Laune.

Wer aber von derlei Dummheit im Internet dümmer wird, denke ich und überlasse meine Füße einer merkwürdigen Maschine, die Hornhaut abflext, darf eigentlich morgens nicht vor die Tür aus Angst, in der U-Bahn pro Fahrt ob der strunzdummen Umgebung bis zu zehn IQ-Einheiten einzubüßen. Dummheit im Netz, überlege ich mir und wähle sorgfältig zwischen unterschiedlichen Nagellackfarben, ist am Ende ähnlich leicht zu umgehen, wie Dummheit an irgendwelchen anderen Orten. Man muss da ja nicht hin.

Dummheit in einem Kosmetiksalon ist allerdings nur dann zu vermeiden, wenn man nicht mit Papierstreifen zwischen den Zehen und einer Feile auf den Fingernägeln auf dem Behandlungsstuhl sitzt. Die Kosmetikerin quatscht trotz Zeitung einfach weiter, lässt sich weder von einem laufenden IPod noch von mehreren mitgeführten Periodika beeindrucken, und so gehen im Zuge der sorgfältigen Hand- und Fußpflege eine Modelshow, die Zeitschrift für Umweltrecht und das Süddeutsche Magazin eine nicht wenig reizvolle Verbindung ein. In der Nachbarkabine schwadroniert meine Ex-Kommilitonin noch immer über Kunst, dass die Schwarte kracht.

Als der Lack auf meinen Nägeln trocken ist, reicht man mir einen Tee. Vorsorglich, und um meine neu erworbene Zehennagelschönheit nicht zu gefährden, wickelt die Kosmetikerin meine Zehen sogar noch in eine Art Klarsichtfolie ein. Dann bin ich entlassen.



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