Mittwoch, 9. Dezember 2009

Die anderen Nächte (09.12.2009)

Aber die Tram fährt vorbei. Ein paar Jungen heben Bierflaschen hoch wie Pokale gegen die Fenster der rollenden Bahn, ein Mädchen lacht laut, an die Scheibe gelehnt, den Kopf weit im Nacken, und zwei küssen sich so, als ob morgen die Welt zu Ende sei und die Liebe vorbei. Heute aber ist die Nacht noch jung und riecht so elektrisch nach Benzin, nach Parfum und gebrannten Mandeln vom Markt.

Du aber läufst nur heim: Eine dickliche Frau in zu dünnem Mantel, die Hände ganz tief in den Taschen. Dunkel, fürchtest du, wird es sein in deiner Wohnung, und keine Seele wartet auf dich mit blitzenden Kelchen, Gesang und sprühenden Küssen. Niemand flüstert dir lauter hübsche Lügen ins Ohr, niemand lacht und nimmt dich warm in die Arme. Neblig und kalt wird es sein und frieren wirst du bei laufender Heizung, und wenn du heute nacht stirbst, dann stirbst du allein.

Montag, 7. Dezember 2009

Tilly (07.12.2009)

"Sehr okay!", sage ich, als ich von der Weihnachtsfeier heimkomme, und packe meine Gewinne aus. Pappsatt bin ich und ein wenig angetrunken von einer ungeordneten Melange aus Glühwein, Rotwein, Weißwein und Sekt. Als ich mich aufs Sofa setze, springt mir die Katze auf den Bauch und rollt sich zusammen. Ich bin ein weiches, warmes Kissen.

Was eine Katze eigentlich den ganzen Tag so denkt, frage ich mich und streichele mit der linken Hand der Katze über Rücken und Kopf. Leise erst, dann lauter beginnt Tilly zu schnurren, streckt sich, dehnt sich und dreht mir den breiten, schwarzen Kopf entgegen. "Meine Süße!", sage ich und wünsche mir, auch bei einem viel, viel größeren, freundlichen Wesen zu wohnen, das mich füttert und liebevoll kratzt.

Nachts würde auch ich auf einem Kissen auf einem alten Sessel schlafen und leise schnarchen. Hätte ich Hunger würde ich maunzen, liefe auffordernd in die Küche und bliebe so lange vor meinem Napf sitzen, bis dieser sich füllt. In der Sonne würde ich liegen, den ganzen Morgen, von Mäusen träumen, die ich nicht jagen müsste, spielen würde ich wie eine Prinzessin sich herablässt zu ihrem Hofstaat, und stolz wäre ich auf mein schönes, glänzendes Fell und meine Augen aus heller, chinesischer Jade.

Sonntag, 6. Dezember 2009

Italien, Italiener (06.12.2009)

Ganz München ist voller Italiener. Mailand und Rom müssen nahezu entvölkert sein, denn Massen lauthals italienisch parlierender Personen schieben sich die Maximilianstraße entlang, bleiben vor jedem Schaufenster stehen und bevölkeren dann einen der offenbar unzähligen Weihnachtsmärkte der Innenstadt.

Die Weihnachtsmärkte sind recht nett, es gibt zu essen und zu trinken, es riecht gut, und anders als in Berlin gibt es weder Dosenwerfen noch Fahrgeschäfte, denn so radikal säkularisiert, dass Weihnachtsmarkt und Rummelplatz synonym verwendet werden können, ohne etwas Falsches zu sagen, ist man offenbar nur an der Spree.

Dass wir morgen mit ganz vielen Kollegen eine Weihnachts-Trash-Rallye auf dem Weihnachtsmarkt am Alexa feiern, löst bei der Münchenerin M.3 daher auch eher Belustigung aus. Mit unseren Feuerzangenbowlen stehen wir in drangvoller Enge eingeklemmt zwischen lauter Italienerinnen im Pelz, die glühweintrinkend geradezu aggressiv überaus teure Handtaschen schwenken.

Die Kinder, die über den Weihnachtsmarkt geschoben werden, erwerben vermutlich gerade alle eine manifeste Klaustrophobie. Es kann nicht amüsant sein, wenn eine ganz, ganz viele Hosenbeine umzingeln und bedrohlich nahe kommen, und entsprechend brüllt ab und zu eins der Kinder ziemlich laut los.

Vor der Theatinerkirche kaufen Leute Weihnachtsbäume, die anscheinend fürchten, die Bäume könnten in den nächsten Wochen zur Neige gehen. Noch auf dem Weg zum Bahnhof sehe ich einen Mann unter einem riesenhaften Baum fast zusammenbrechen, den er alle paar Schritte abstellt, um kurz zu verschnaufen.

Als ich im Flughafenbus sitze, höre ich hinter mir wieder Italiener. Ein Mädchen singt ein Weihnachtslied mit einem Rentiergeweih aus Filz auf dem Kopf, und ein Bub, der ihr Freund sein kann oder auch ihr kleiner Bruder, lacht sich schier tot und schlägt sich buchstäblich auf die mageren Schenkel.

Am Terminal 2 verlassen beide den Bus, noch immer lachend.

Samstag, 5. Dezember 2009

München (05.12.2009)

10.00 Uhr

Ganz kurz spiele ich mit dem Gedanken, einfach den ganzen Tag in meinem sogenannten Alpenzimmer (einer Art Laura-Ashley-Imitat im Chalet-Stil, überraschend geschmackvoll ausgefallen) im Bett zu bleiben. Wie es die Hotels bewerkstelligen, diese komplette Reinheit raschelnd weißer Bettwäsche zu schaffen, frage ich mich und taste nach meiner Brille, die ich brauche, weil ich sonst auf dem Weg zu meinen Kontaktlinsen verunglücke oder etwas zerstöre.

Weil ich nichts zu lesen habe, verwerfe ich den Gedanken an einen Tag im Bett dann doch und stelle mich nackt vor den Spiegel. Die Frauenzeitschrift Brigitte, habe ich gehört, werde künftig keine Models mehr ablichten, aber selbst diese Anhängerinnen normal dicker Frauen würden mich - würde ich dort vorstellig - vermutlich nach kurzer Ansicht heimschicken: Meine Körpermitte wirkt irgendwie breiig. Meine Körperspannung tendiert in den negativen Bereich. Mein Rücken tut weh.

An sich bin ich noch von gestern abend komplett gesättigt. Wirklich sehr schlanke Personen würden nun auch eingedenk des unerfreulichen Anblicks des eigenen Körpers auf dem Weg zum Bad einfach nichts essen, aber ich schleppe mich ungeduscht ins Erdgeschoss, lese in der Süddeutschen etwas über den Untergang der Welt wegen schlechten Wetters und stopfe mir zwei Weißwürste, eine Brezel, Rührei und Tee in den ohnehin vollen Magen.

Dann lege ich mich wieder ins Bett.

12.00 Uhr


Mein Nacken ist neunzig. Den ganzen Tag drücke und presse ich an meinen Halswirbeln herum und versuche, den archimedischen Punkt meiner Rückenmuskulatur zu finden, an dem selbiger aus den Angeln gehoben werden kann, um sich fortan wieder normal anzufühlen. Leider suche ich völlig vergeblich. Als ich vor den Spiegeln in der ersten, zweiten, dritten Boutique stehe, sehe ich mich eigentlich mangels Bewegungsfähigkeit nur frontal von vorn.

Auch eine Massage wirkt sich nur kurzzeitig wohltuend aus. Es fühlt sich gut an, das schon, man sollte viel öfter massiert werden, aber das merkwürdige Gefühl völliger Versteifung lässt nur für etwa eine halbe Stunde nach. "Sie sind verspannt.", teilt mir die Physiotherapeutin mit, eine kleine, lebhafte Ungarin, und zieht kräftig an meinem Rücken und meinen Wirbeln. Das Mädchen wiegt maximal 50 Kilo, schätze ich und frage mich, was sie eigentlich über Leute denkt, die so teigig wirken wie ich. Kein Wunder, dass mich keiner umsonst massiert, ziehe ich den Bauch ein, aber das nützt natürlich gar nichts.

14.00 Uhr

Rund um mich herum sind alle Frauen blond, sogar die M. ist erblondet. Gelangweilte Männer sitzen auf niedrigen Hockern und warten auf ihre Freundinnen, die in immer neuen Kleidern aus den Kabinen kommen, sich drehen, in den Spiegel schauen und dann in die Kabine zurückkehren. Die meisten sind fabelhaft schlank.

"Ist der okay oder brauche ich den größer?", frage ich eine der ebenfalls blonden Verkäuferinnen, die zur 38 rät. Tatsächlich geht es eine Größe größer besser, und mit einem Kleid, einem Pullover und einem Shirt verlasse ich das Geschäft. 5 Kg, schätze ich, müsste ich abnehmen, um akzeptabel schlank zu werden, aber das mache ich nächstes Jahr. Die M. will auch abnehmen, sagt sie, und wir verabreden eine München-Berlin-Diät mit montagmorgendlichem Contest.

16.00 Uhr

Ich trinke heiße Schokolade. Ich glaube, der Laden heißt Vianne und erinnert ein bißchen an das kakao am Helmholtzplatz, das ich mochte und das nicht mehr da ist, leider. Die heiße Schokolade im Mokkatässchen mit Orange und die halbe, kandierte Orangescheibe dazu, erinnere ich mich mit einem Löffel Wehmut und blättere ein wenig zerstreut in Marguerite Duras Liebhaber, den ich aus irgendwelchen Gründen nie gelesen habe.

Hier gibt es Schokolade und Milch getrennt mit einem Mini-Schneebesen zum Selberrühren, angenehme Musik im Stil der Dreißiger und ich werde etwas müde. Ich würde gern ein paars Stunden einfach auf einem Sofa liegen und mir etwas erzählen lassen und dabei vielleicht eine Katze kraulen, die leise schnurrt.

18.30 Uhr

Eigentlich bin ich schon hungrig. Neidisch schaue ich meinem Begleiter auf das Haloumi und den anderen Leuten im Café Puck auf das gebratene Fleisch. Demnächst gibt es etwas, sage ich mir und trinke heiße Zitrone.

Träge fließt der Abend durch den langgestreckten Raum, ich höre zu, antworte, beobachte meinen Begleiter, der seine Worte ab und zu mit den Hände unterstreicht. Nett ist es hier, überlege ich mir und schaue mich um. In Städten bin ich immer daheim, da geht es immer, egal wo, nur am Land fühle ich mich stets fremd, wie ein Alien, im besten Fall wie ein Besucher im Zoo.

20.00 Uhr

Sie sitzt schon an der Bar. Sie ist schlank geworden, so schlank, dass ich sie fast nicht erkenne, aber lacht dann doch wie in Berlin und ist so klug und schnell und witzig, wie Leute sind, die ich mag. Den Laden mag ich auch, der Schmock heißt, in der Augustenburger Straße, und der gut und etwas zu reichlich kocht.

Die Maronensuppe mit Jacobsmuschel ist sehr kompakt, an sich eine ganze Mahlzeit, und mir fällt die Maronensuppe in Wien vor zwei Jahren ein, die ein Weihnachtsmenu eröffnen sollte, und danach hätte ich eigentlich aufhören können zu essen. Statt dessen erschien der Kellner mit einer Scheibe Gänsestopfleber, die wiederum zur Speisung eines Hungrigen auch ganz allein gereicht hätte.

Hier erscheint ein Kalbfilet, butterweich, rosa und mit einer sehr schaumigen, zartweißen Emulsion. Wir trinken einen schweren, sehr dichten israelischen Cabernet Sauvignon und ich erzähle von der Weinprobe in Israel auf einem Weingut das Carmelwein oder so hieß, zu der mein Vater mich mitnehmen musste, weil meine Mutter krank war, und ich war elf und saß drei geschlagene Stunden traubensafttrinkend zwischen meinen Onkeln und langweilte mich so vor mich hin.

Nach dem Kalb bin ich unglaublich satt. Ein Dessert kann ich unmöglich essen. Noch vor drei Jahre hätte ich die Nachspeise trotzdem einfach bestellt, aber zu den Nachteilen des Alters gehört offenbar auch eine Art natürlicher Mäßigkeit, die noch viel Langeweile verursachen wird in den nächsten fünfzig Jahren. Immerhin geht es mir gut: Ich lache fürchterlich viel, rauche vor der Tür und laufe schließlich zu Fuß zurück zum Hotel.

Es ist nicht spät, aber ich bin müde.

Freitag, 4. Dezember 2009

Die große Höhle (03.12.2009)

Dass ich heut' nacht in der großen Höhle war, und keiner war dort außer mir. Dass es feucht von den Decken hing, und die Wände pulsierten schwarz und verkrustet von all ihren Opfern.

Dass es irgendetwas mit einem Bus zu tun hatte, dass ich dort war. Wieso keiner mir zur Hilfe kam, und nicht einmal mein Handy hatte Empfang. In meiner Tasche hatte ich zwei krümelige Kekse. Nur zu meinen Füßen bewegte sich etwas Pelziges, Kleines, vielleicht meine Katze oder ein anderes freundliches Tier.

Dass ich kurz an Flucht dachte und den Gedanken verwarf. Dass ich ins Innere lief, wo ein Strom breit nach Süden floss, dem ich folgte. Dass es hell wurde am Ausgang.

Dass ich lief und lief, aber der Schein wurde nicht heller. Ganz vergeblich rannte ich über spitze Steine, vorbei an einer ausgebrannten Telephonzelle und einem toten Pferd. Dass die Glocken läuteten irgendwann, gellend, ach: greller als alles, und der Fluß anstieg, wallte wie kochendes Öl und höher kroch, höher: Bestimmt bis zu mir.



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