Familienalbum

Dienstag, 17. Mai 2005

Sic transit

Die Vergänglichkeit, so sagt man, beschäftigt den alten Menschen naturgemäß mehr als den jungen. Nicht nur das weitere Schicksal unserer unsterblichen Seele, sondern auch die Frage, welche künftigen Wege jene irdischen Besitztümer nehmen, die uns teuer sind, stellen auf dem Wege zum Grabe indes Umstände dar, an die gerade ein seit 15 Jahren verwitweter kinderloser Greis von über achtzig Jahren mit Bangen denken mag, und anders ist jener Vorfall des mir ansonsten ziemlich unbekannten Onkel H. auch gar nicht verständlich.

Den Onkel H., ein Vetter meiner Großvater oder so, hatte ich zuletzt auf der Beerdigung meines Großvaters gesehen, damals noch in Begleitung seiner Gattin, und nach jenem letzten gemeinschaftsstiftenden Ereignis der Großfamilie vollkommen aus den Augen verloren. Mit den Jahren, so sagt man sich, sei er ein wenig wunderlich geworden, wie es denn so geht, wenn erst die Gefährtin dahinsinkt, und man sich dann auch noch mit der ganzen restlichen Sippe zerstreitet, ohne in einem ausgedehnten Freundeskreis hinreichenden Ersatz zu finden. Allein mit einer zumindest für einen Privatmann verhältnismäßig umfangreichen Bibliothek verblieb Onkel H. also in seinem Einfamilienhaus und wurde steinalt und ein bißchen komisch. Lange Jahre hörte niemand etwas vom Onkel H.

Eines Tages jedoch klingelt bei einer Person, die ich der Einfachheit halber hier einmal schlicht eine Tante nennen möchte, das Telephon, und des H. Nachbarn sind dran. Onkel H., so berichten diese, grabe seit Anfang März den ganzen Garten einmal sorgfältig um und versenke in den offenen Löchern große, schwere Gegenstände. Oha, dachte meine Tante, und rief den Onkel bei Gelegenheit einmal an. Der Onkel verleugnete sich.

„Was meint du, mit er verleugnete sich?“, frage ich ein wenig irritiert nach. „Naja,“, sagt meine Tante, „stelle dir vor, ich rufe dich an, und du behauptest, du wärest gar nicht du. Sondern deine Mitbewohnerin.“ „Ach so.“, antworte ich, und fürchte das Schlimmste für den Geisteszustand jenes Onkels, das sich dann auch sogleich bestätigen sollte: „Onkel H. ist ja leider verrückt geworden.“, meint meine Tante, und schildert den Besuch beim H. am Wochenende nach dem erfolglosen Versuch telephonischer Aufklärung.

Gegen Mittag biegt die Tante also in die Straße des Onkels ein, und sieht schon an der Ecke das Malheur: Tatsächlich besteht der ganze Vorgarten – und wie sich später herausstellen sollte: der Garten nach hinten heraus auch – aus einer planen, wüsten Ackerfläche. „Hat er dich denn ohne Probleme ins Haus gelassen?“, frage ich, und ernte die Versicherung der Tante, der Onkel sei nachgerade froh gewesen über ihr Auftauchen, und das könne er auch sein, denn einen Geistesgestörten - nicht? – könne man ja unmöglich allein lassen, der müsse unverzüglich unter Aufsicht, und dafür habe sie dann auch gesorgt.

„Woran hast du gemerkt, dass er krank ist?“, frage ich ein bißchen irritiert nach. „Die Bücher!“, trompetet die Tante, und legt die Umstände einer wahrhaft sonderlichen Regelung auf den Todesfall dar: Besagter Onkel also, bar der Nachkommen und ohne nennenswerte literaturbeflissene Bekannte, begann wohl vor einigen Jahren, um jene Bibliothek, die den Quell der Freude seines ansonsten etwas eintönigen Lebens darstellte, zu fürchten. Traurig winkten die Bücherkisten der Trödler dem Einsamen zu, vor seinem geistigen Auge wuchsen starke Männer aus dem Boden, die im Auftrage einer Firma für Wohnungsauflösungen die Bibliothek mitnehmen und sodann auseinanderreißen und für billiges Geld verramschen würden. Weh wurde es dem Onkel, Marbach wollte seine Bibliothek nicht haben, und so beschloss der Onkel die Bücher mit ins Grab zu nehmen wie, so sagt man, Inder bisweilen ihre Ehefrau.

Größe und Benutzungsmodalitäten herkömmlicher Grabstätten verboten indes eine allzu wörtliche Ausführung dieses Plans. Unter die Erde, geschützt vor den raubgierigen Fingern der Wohnungsauflöser und der fleddernden Verwandten, die den gesammelten Kleist mitnehmen, und die Tagebücher Ernst Jüngers wegschmeißen würden, sollten die Bücher gleichwohl, und so erwarb der Onkel große wasserdichte Kisten, und hob an, das Glück seines Lebens einen Meter tief unter seinem Garten für nachfolgende Generationen aufzusparen.

„Ist er sonst denn noch ganz gut beieinander?“, frage ich die Tante, und ernte ein entrüstetes Schnauben. Mit Zähnen und Klauen habe er sich gegen das Altenheim gewehrt, mit Einweisung habe sie drohen müssen, aber so habe es ja nicht gut weitergehen können, und ein gut geführtes Heim habe sie auch gefunden. „Kann er die Bücher da denn mitnehmen?“, frage ich nach, und meine Tante weist auf die immensen Kosten der Wiederausgrabung hin. Den Nachbarsjungen habe sie Geld gegeben, und hoffe demnächst die Kisten wieder vollzählig vorzufinden.

Ins Heim aber, so sagt meine Tante, werde der alte Mann die Bücher kaum mitnehmen können, höchstens eine Auswahl, und so werde sie die Bücher wohl, wie auch das Haus, verkaufen.

Mittwoch, 11. Mai 2005

Die Gleichberechtigung der Frau

„Als Frau hat man´s gut!“, jammert mein kleiner Cousin, und ich schaue ein wenig gelangweilt aus dem Fenster. Gemöcht, denke ich, und wie schön eine heiße Tasse Tee an diesem kalten Nachmittag wäre, legte der Kleine mal so langsam auf. „Als Junge hat man doch immer den schwarzen Peter.“, lamentiert mein jugendlicher Vetter weiter, und erläutert ausführlich die Ungerechtigkeit, die in der Verpflichtung des Mannes läge, das menschliche Liebesleben durch Worte und Taten zu leiten und zu lenken. Als Frau könne man mit enigmatischem Lächeln daneben stehen, dem armen Kerl beim Schwitzen zusehen, und die Bemühungen je nach Laune gnädig annehmen oder abschlägig bescheiden.

„Das ist doch der schiere Blödsinn.“, sage ich, und beobachte die Wolkenbildung über dem Hinterhaus: Kann gut sein, dass es heute noch regnet. - „Hast du jemals einen Mann angesprochen?“, ereifert sich der Kleine, und reagiert auf mein „Nein“ mit einem triumphierenden Ausruf.

„Das ist doch nicht bloß positiv.“, sage ich, und versuche das jugendliche Weltbild ein wenig zurechtzurücken. Man kann abwarten, so weit hat der Kleine recht. Die Kehrseite der Medaille indes, die dunkle und kalte Seite des Mondes, liegt aber in der Unmöglichkeit, seinerseits initiativ zu werden. In einer Bar beispielsweise, auf einer Party oder im Foyer der Staatsoper zu einem gefälligen, aber fremden Herrn zu spazieren und ihn anzusprechen, wirft in den Gehirnen vieler Herren ein gar nicht gutes Licht auf die eigene Gesamtpersönlichkeit. Vom unverbindlichen Gespräch zu Tätlichkeiten überzugehen, ist als Dame dann noch einmal um ein vielfaches riskanter als als Herr.

„Ihr seid doch alle so wahnsinnig emanzipiert!“, stichelt mein kleiner Cousin, und fragt nach den Gefahren, die denn da lauern sollen, greift man selber nach seinem Gegenüber. „Versucht mich einer zu küssen, und ich will nicht, dann geht er nach Haus, und hält mich für eine Zicke, die ihn ohnehin nicht verdient hat. Versuche ich, einen Mann zu küssen, und er will nicht, dann hält er mich für eine mannstolle Furie und erzählt die ganze Geschichte angewidert allen seinen Freunden.“, versuche ich, den Realitäten in dieser - in Gleichberechtigungsfragen bedauerlicher Weise doch durchaus defizitären - Welt Eingang in die sechzehnjährigen Hirnwindungen des mir verwandten Knaben zu verschaffen.

„Wenn einer so denkt, ist der Kerl doch eh ein Trottel.“, argumentiert der Kleine, und hat vermutlich durchaus recht. Die Welt, so erläutere ich, bestehe leider aus einem ganzen Haufen Trottel, und da sich die Trottel selten direkt zu erkennen geben, so ist Vorsicht geboten, die mit den Jahren erst zur Gewohnheit und dann zur Unmöglichkeit werde.

Mein kleiner Cousin glaubt mir kein Wort.

Erst recht, so lege ich nach, bestehen diese Hemmnisse im Bereich der eher plötzlichen Entschlüsse. Eine Frau, die einen Herrn aus einem spontanen Entschluss heraus in die eigenen vier Wände mitzunehmen beabsichtigt, hat kaum eine Möglichkeit, dies in einer Art und Weise zu tun, die ihr im Falle der entrüsteten Zurückweisung den ehrenhaften Rückzug ermöglicht. Die an sich unkomplizierten Worte vor dem Heimweg, „Kommst du noch mit?“, werden die Lippen auch der eloquenten Person weiblichen Geschlechts daher keinesfalls verlassen.

„Auf die Idee muss man ja auch erst einmal kommen.“, qualifiziert mein kleiner Cousin spontane Damen in einer Art und Weise, die wohl mitnichten schmeichelhaft gemeint ist. „Ist ja wohl eh alles mehr ein Problem der älteren Generation.“, schließt der Kleine das Telephonat und überlässt eine leicht irritierte Endzwanzigerin einer Kanne Tee und der Kälte vor den Fensterscheiben.

Donnerstag, 24. März 2005

Generationenkonflikt

Als der freundliche ältere Herr, der gegen Mittag in der Rochstraße einer Frau den heruntergefallenen roten Seidenschal aufgehoben hat, haben Sie sich vielleicht gefragt, wer ich sein mag, und wer der Junge neben mir. Als ein regelmäßiger und geschätzter Leser dieses Blogs kennen Sie natürlich mich, und auch mein kleiner Cousin, heute und morgen zu Besuch in Berlin, ist Ihnen ein Begriff. „Aha,“, denken Sie nun, „so schaut das Fräulein Modeste also aus“, und weil Sie ein neugieriger Mensch sind, bedauern Sie vielleicht gerade, uns nicht gefolgt zu sein ins Zoe.

Dass Sie uns nicht nachgegangen sind, bedaure ich selbstverständlich insbesondere für Sie, denn im Zoe kann man hervorragend speisen, auch wenn man ein wenig zu steril sitzt, so in weiß und hellem Holz, ein wenig wie in der Saphire Bar, die Sie vielleicht kennen. Günstig ist es dazu, so günstig, dass ich mich jedesmal frage, wie der Laden sich rechnen kann, wenn ein Mittagessen so sechs, sieben Euro kostet, und man selbst abends für die Turnschuhe meines geschätzten kleinen Cousins viele Freunde beköstigen könnte.

„Kleines Luxusbalg,“, necke ich daher meinen Cousin, der ein wenig langatmig die Anschaffung weiterer Schuhe erörtert. Mein Cousin errötet. Dann frage ich ihn, noch bevor das Essen kommt, nach dem Verlauf seiner künstlerischen Versuche, und er beschreibt seine Vision der Malerei mit raumgreifenden Bewegungen seiner Arme. Die Bilder müssen groß sein, oder zumindest ist es die Vision.

„Kannst du dir vorstellen, in diese Richtung zu studieren?“, versuche ich ihn wieder in irdische Sphären zu ziehen. „Ach was,“, meint der Kleine, und verweist auf die fehlenden Möglichkeiten wirtschaftlichen Erfolges und das unzureichende Sozialprestige des Künstlers. Ich schaue ihn ein wenig irritiert an, und versuche mich an die Bedeutung ökonomischer Erfolgsperspektiven für meine Berufswahl zu erinnern, die ich auch in der Rückschau als eher untergeordnet bewerte. „Man muss seine Familie ja auch einmal ernähren könne.“, erläutert der Kleine und erntet einen noch irritierteren Blick über meine Orecchiette hinweg.

Auf dem Grunde des Tellers angelangt, hat mein kleiner Cousin seine persönliche Lebensplanung offenbar einigermaßen erschöpfend dargelegt. Geplant ist eine Karriere vorzugsweise in der Juristerei, die er sich inspiriert von einigen anderen Familienmitgliedern als einigermaßen unproblematisch imaginiert. Geheiratet soll werden, ein paar Kinder sollen her, und einen Hund will er haben. Auf keinen Fall, so der Kleine, soll ein Leben dabei herauskommen bar der tiefen Bindungen, versinkend in hedonistischer Leere, angefüllt mit Scheidungen, Psychotherapien und Verantwortungslosigkeit.

„Oha,“, sage ich da und ordere auf den Schreck eine Crème Brûlée. Mein Cousin spricht nun über den verfehlten Zeitgeist, Menschen, die ihren Körper als einen Rummelplatz missbrauchen, und fehlgeleitete Selbstverwirklichung als Ursache familiären Elends.

„In der Praxis sieht´s dann alles doch etwas anders aus.“, relativiere ich den konservativen Redestrom des Kleinen. Mein kleiner Cousin aber insistiert. Alles werde er anders machen, in seinem künftigen Leben fernab der Oberflächlichkeit, und werde in diesen ruhigen und sicheren Gewässern, in denen sich schon erhebliche Zeit kein ernstzunehmendes Familienmitglied mehr hat blicken lassen, wahres Glück finden.

Und auch ich, so bietet er auf der Suche nach weiteren Schuhen an, darf im Schoße seiner zukünftigen Familienidylle mein Alter verbringen.

Na dann.

Sonntag, 13. März 2005

Aus dem bürgerlichen Familienleben

Mein Onkel E. war nicht ganz sechzig, da ereilte ihn vor knapp zwei Jahren ein Herzinfarkt und warf den bis dato exemplarisch kerngesunden Mann kurzzeitig komplett aus der Bahn. Die Ärzte schalten Onkel E. aus, folgsam hörte er auf zu rauchen und verringerte die Fettmenge pro täglicher Ernährungseinheit. Onkel E., so sagt sein Arzt, ist heute wieder ein gesunder Mann.

Onkel E. wollte dem Arzt gerne Glauben schenken, allein sein Unterbewusstsein zog da nicht mit. In unregelmäßigen Abständen, gern nachts oder zu gänzlich unpassenden Gelegenheiten, schrak der E. auf, sein Herz raste, der Schweiß brach ihm aus und er dachte panisch und intensiv an den Tod. Naturgemäß sagte ihm dieser Zustand nicht besonders zu.

Körperlich fehlt E. nichts. Herzinfarktpatienten, so der Arzt, neigen häufig zu dieser Art von Angstzuständen, die meistens nach einer Weile wieder verschwinden, wenn die Erinnerung an den Infarkt verblasst.

Eine ganze Weile lief der Onkel E. mit der Hoffnung auf das Verschwinden der Zustände durch die Gegend, allein der Zeitablauf brachte keine Besserung. Wieder und wieder ließ er sich die Saugnäpfe des EKG-Geräts auf die Brust setzen, die Schwestern begannen sich zuzutuscheln, wenn er die Sprechstunde kam, und schließlich hatte E. den elenden Kreislauf von Panik und Untersuchung satt. Er ging zum Psychologen.

Wer auch immer dem E. diesen Seelenheilkundler empfohlen hat, hat an E.´s häuslicher Situation nicht nur gut getan. Tief tauchte der Psychologe in die Seele des E. und förderte dort merkwürdige und fremdartige Vorstellungen zutage, die unter der ruhigen Oberfläche dieses leicht phlegmatischen Verwandten schlummerten. Einige dieser Fundstücke waren mehr von der kuriosen Sorte. Insonderheit eine Sache sollte allerdings den Familienfrieden nachhaltig stören. Es geht um E.´s Frau.

Seit mehr als 25 Jahren pflegt der E. diese Ehe mit einer in meiner Sippe seltenen Konsequenz. Mit meiner Tante zeugte Onkel E. zwei wohlgeratene Söhne. In arkadischer Abgeschiedenheit fernab der Städte bewohnte E. samt Frau seine kleine Privatidylle, und niemals, ich würde meinen Kopf verwetten, dachte der ehemals schwarzlockige Onkel E. an die finsteren Motive, die der Partnerwahl zugrundegelegen haben, schenkt man dem Psychologen Glauben: E., so der Psychologe, leidet an einer Art Walkürenkomplex. Aus einem tiefsitzenden Minderwertigkeitsgefühl gegenüber hochbusigen, blonden und ziemlich reckenhaften Personen heraus habe E. sich meiner Tante bemächtigt. Mit dieser Heirat, so der Psychologe, habe der E. eine Möglichkeit gefunden, sein Unterlegenheitsgefühl durch einen Sieg unter Kontrolle zu bekommen. Oder so ähnlich.

Was sich in den folgenden Wochen im Hause des E. und seiner Frau abgespielt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Der Grad an Zufriedenheit, den E. und die Tante aus dem Eheverhältnis saugten, scheint aber irgendwie schon eher gelitten zu haben, denn anders ist das Gesprächsbedürfnis der Tante mit Außenstehenden nicht zu erklären. Sie sei beinahe verzweifelt, die vorher schafsfriedliche Ehe habe stark gelitten, man streite sich, und ihr Wunsch, mein Onkel möge den Psychologen wechseln, sei vom Onkel sehr, sehr negativ aufgenommen worden. Überdies habe der Onkel diesen Wunsch dem Psychologen weitergetratscht, der nun wirklich ziemlich destruktiv zu werde drohe.

Alles dies berichtete die Tante meiner Mutter.

Nach mehr als zwei Wochen fragte meine Mutter einmal nach. Die Situation, so erfuhr sie, sei weiterhin gespannt. Allerdings hätten wohlmeinende und mit der Psychologenszene wohlvertraute Freunde ihr nunmehr geraten, auf dem Wege einer „Familienaufstellung“ die ehedem verdeckten Konflikte zu bemeistern.

Die Psychologie gehört nicht wirklich zu denjenigen Gebieten, auf denen meine Mutter Kennerschaft behaupten darf, was sie allerdings kaum von intensiver Meinungsäußerung abhalten dürfte. Die Familienaufstellung, so meine Mutter, sei eine finstere und gefährliche, geradezu sektengleiche Sache. Um E. und Frau nicht in die Pranken bedrohlicher Leute fallen zu lassen, riet sie unverzüglich ab und zerschoss auf diese Art und Weise wohl eine starke Hoffnung der Tante, die deswegen nicht sehr begeistert reagierte. Um trotz des Widerstandes der Tante die Familienaufstellung zu verhindern, rief sie also meinen Onkel an, erreichte diesen auf dem Weg zum Psychologen, der von der Idee auch nichts hielt, und löste mit diesem Anruf eine größere Krise aus, die auf der ohnehin unruhigen See einer zutiefst kommunikativen Familie hohe Wellen schlug und intensive telephonische Beratungen nach sich zog, die immer noch andauern.

Dienstag, 22. Februar 2005

L`Education Sentimentale

Von jenen Menschen, die mich ihre Cousine nennen, schätze ich im wesentlichen zwei, den Ältesten und den Jüngsten. Jener, so reizend, wie ein sechzehnjähriges Einzelkind es zu sein vermag, führt gegenwärtig ein beschauliches Leben in einem süddeutschen Universitätsstädtchen, woselbst sich sein Vater der Forschung über einen extrem irrelevanten Bereich menschlichen Lebens hingibt.

Es muss ein wenig spröde zugehen in diesem Kaff, oder vielleicht liegt es auch nur an der seelischen Prädisposition meines jugendlichen Cousins: Wie mir gestern im Rahmen eines Telephonats mitgeteilt wurde, wollen die Mädchen nicht so wie er.

Sollte die Darstellung dieser Problemlage eine Bitte um Rat und Hilfe enthalten haben, so ist der Kleine bei mir selbstverständlich an der völlig falschen Adresse. Ich verfüge über keinerlei Sachverstand bezüglich der Frage, wie man sich die weibliche Bürgerschaft eines badischen Regionalzentrums gefügig macht. Einen Ratschlag jedoch konnte ich meinem jugendlichen Cousin vermitteln: Die gegenwärtig verfolgte Strategie ist

völlig falsch.

Mein Cousin, so erfahre ich, obliegt mit großer Freude dem Besuch einer Kunstwerkstatt, wo die ältere geschiedene Frau eines ortsansässigen Orthopäden der lokalen Jugend im Rahmen ihrer Möglichkeiten Zeichenunterricht erteilt und Einführungen ins Freie Malen vermittelt. Ob mein Cousin nun besonders begabt oder nur besonders begeistert ist, vermag ich nicht zu beurteilen – ich habe nie ein Bild gesehen. Um aber nicht nur in den mickerigen zwei Stunden pro Woche in der Kunstwerkstatt der Kunst huldigen zu können, hat mein Cousin sich eine Art Atelier im Keller eingerichtet, wo es zwar etwas dunkel, aber immerhin ungestört zugeht.

Neben der Kunst verehrt mein kleiner Cousin nicht nur die Mädchen generell, sondern ein ganz bestimmtes Mädchen speziell, unglücklicherweise aus der Klassenstufe über ihm. Die Darstellungen des wochenlangen Umkreisens lasse ich hier jetzt einfach einmal aus – schlussendlich überredete mein Cousin das Mädchen vor ungefähr zwei Wochen zu einem Tee in seinem Atelier.

Die Kleine zeigte sich ziemlich angetan über die Hervorbringungen meines Cousins, mein Cousin wuchs auf der Stelle mehrere Centimeter, und wagte schließlich die entscheidende Frage an sie zu richten. Ober er sie malen dürfte.

„Malst du denn gegenständlich?“, frage ich den Kleinen. „Ach was,“, sagt der Cousin, es gehe hier mehr um die Inspiration, wenn ich verstehe, was er meint. Ob ich es verstehe oder nicht – die Kleine verstand, kam mehrere Tage lang in den Keller und saß stundenlang auf einem alten Cordsofa, während mein Cousin bunte Farben auf große Tapetenstreifen warf.

Vor einigen Tagen sagt sie ab. Sie habe keine Zeit mehr, sie hoffe, mein Cousin werde auch ohne sie fertig, und ansonsten sehe man sich ja in der Schule. Mein Cousin ist untröstlich.

„Hast du irgend etwas gesagt, was sie hätte missverstehen können?“, frage ich. „Nein,“, stößt mein Cousin hervor. „Nichts habe ich gesagt, ich kann beim Malen gar nicht sprechen.“ Etwas erstaunt bohre ich nach. „Nein,“, insistiert der Kleine. Er spreche beim Malen nie. „Ich will sie ja auch nicht bequatschen oder totlabern, das muss ihr doch wahnsinnig auf den Geist gehen.“ Mit den Waffen der Kunst hoffte er sie zu beeindrucken. Ein Mädchen verliebt sich doch nicht in „irgendsoeinen Laberkopf“.

Behutsam versuche ich dieses grundsätzliche Mißverständnis über die weibliche Natur auszuräumen. Der Kleine stellt sich quer. Er wird es schwer haben im Leben.

Donnerstag, 10. Februar 2005

Gerechtigkeit auf Erden ist hundsgemein

So, Sie sind also eine Frau. Sie marschieren mit Ihrer zehn Kilo leichteren Schwester durch Mitte, und Schwesterchen kommt vor lauter Einkaufstüten kaum mehr durch die Tür. Sie sind ein von Neid zerfressenes Geschöpf mit einem reichen Strauß mieser Charaktereigenschaften, von denen Sarkasmus keineswegs die schlechteste darstellt. Sie wiegen 62 Kilo und fühlen sich wie ein Elephant.

Greifen Sie sodann in Ihre Tasche, wenn das Telephon klingelt. Erkennen Sie die Nummer des fernab weilenden T., dann freuen Sie sich, denn T. ist Ihr Retter. Folgen Sie also genau seinen Anweisungen, denn er kennt Sie genau und hat Ihre Hilferufe vernommen.

Der Weg zur Rettung führt über die Max-Beer-Straße in die Rosa-Luxemburg Straße. Da ist es nicht schön, sagen Sie? Dann gehen Sie etwas schneller, in Ihren Camper sind Sie sowieso schneller als Schwesterchen. Aber nehmen Sie ihr ruhig ein paar Tüten ab, denn Sie sind gleich da.

Vor der Rosa-Luxemburg Str. 22 halten Sie inne. Berufen Sie sich auf den T., behaupten Sie, keine vernünftige Wäsche mehr zu haben, und betreten Sie das Paradies. Es heißt Blush, und gleich wird alles besser.

Am besten, Sie probieren alles an, was der Laden hergibt. Auch Ihre Schwester wird sich in Spitzen hüllen, aber hey – können Sie sich Kate Moss in Dessous vorstellen? Das Leitbild der Oberbekleidung tragenden Frau enthält weniger Fett als Magerquark, aber darunter sieht es anders aus. Lassen Sie sich ruhig Zeit, drehen Sie sich vor dem Spiegel und genießen Sie, dass alles passt. Die Beleuchtung ist klasse, Sie bedauern, dass das Leben nicht mehr Gelegenheit bietet, sich in Unterwäsche zu präsentieren, während Ihre Schwester gerade in diesem Moment eigentlich nur aus Knochen besteht.

Bedauern Sie mit Schwesterchen den Unverstand der Modedesigner. Drücken Sie das leicht belämmert wirkende Schwesterchen herzlich. Kaufen Sie irgendwas von dem fabelhaften Zeug, gehen Sie essen, und verzeihen Sie dem Schwesterchen sogar den silbernen Süßstoffspender in der Handtasche.

Wieder daheim können Sie alle Vorhänge zuziehen und sodann angetan mit Ihrer Neuaquisition eine Runde durch die Wohnung tanzen.

Mittwoch, 9. Februar 2005

Emotionale Intelligenz

Das Telephon klingelt, und meine Schwester würde wetten, dass ich nicht weiß, wo sie ist. Keine zehn Minuten später steht sie vor der Tür und neben ihr steht ihr grauenhaft grobschlächtiger Freund. Wer sein Unternehmen von so etwas beraten lässt, hat es nicht anders verdient, schießt es mir durch den Kopf.

Schwesterchens Kerl hat beruflich den ganzen Tag zu tun. Auch ich bin nicht ganz beschäftigungslos, ganztägige Einkaufstouren verbieten sich also schon aus diesem Grunde von selbst. Schwesterchen zieht einen Schmollmund und wirft sich auf mein Sofa. „Ich hab´ mich schon so auf dich gefreut.“, jammert Schwesterchen. Wir einigen uns auf eine gemeinsame Mittagspause und abendliche Lustbarkeiten.

Vorerst bleibt Schwesterchen auf dem Sofa liegen und schaut versonnen die Reihe der Bücherregale entlang zum Fenster. „Du hast´s gut,“ sagt Schwesterchen, „du kannst lesen.“ Seit Schwesterchen im Staatsexamen stecke, lese sie kaum noch. Den ganzen Tag – und dann auch noch abends, das wäre zuviel. Ich kann mich allerdings gerade nicht erinnern, Schwesterchen im gemeinsamen Elternhaus jemals mit Büchern gesehen zu haben. Dann schreitet Schwesterchen an den Büchern vorbei Richtung Esstisch. „Wenn Papa mal stirbt, hast du ja alles doppelt,“ spricht sie und deutet auf die Bücher. Dann lässt sie sich den Tee eingießen, plaudert ein bißchen von einer Kaffeeverkostung, schimpft über ihren Friseur und wirft sich tatsächlich mitgebrachten Süßstoff in meinen weißen Tee.

Anschließend geht Schwesterchen einkaufen, ich gehe arbeiten und sie ruft immerhin nur zweimal an. Ja, ich finde A.P.C. auch in Ordnung. Und wir treffen uns bei den Galeries Lafayette.

Bevor ich losfahre, stelle ich mich vor den Spiegel. „Das ist meine einzige Schwester und ich muss nett zu ihr sein.“. schärfe ich mir ein. „Aus meiner intellektuellen Herablassung gegenüber meiner schönen Schwester spricht der blanke Neid.“, wiederhole ich, was ich seit Jahren weiß. „Was ich jemals gelesen, gelernt oder geleistet habe, ist völlig egal in Ansehung ihres bombastischen Aussehens.“, mache ich mich fertig.

In den Galeries Lafayette isst Schwesterchen sechs Austern und drei Petit Fours. „Du langst ja ganz schön hin, Liebchen.“, meine Schwester strahlt mich an. „Mir schmeckt´s halt.“, gebe ich wütend zurück. Schwesterchen zeigt ihre Neuaquisitionen in Größe 34/36.

Ich erzähle ein bißchen vom Besuch unseres Vaters bei mir. „Der interessiert sich doch eh nur für dich.“, unterbricht sie mich. Und dass sie Jahre gebraucht habe, diesen Satz für sich zu formulieren. Ich starre sie an. Ich hatte in den letzten 26 Jahren nie das Gefühl, Schwesterchen könne an der väterlichen Wertschätzung auch nur irgend etwas liegen. Außerdem wird Schwesterchen schon von ausreichend Leuten geschätzt. Dass wenigstens unser Vater nicht zum Verein zur schwesterlichen Anbetung gehört, finde ich ausgleichend und richtig. Und das sage ich auch.

„Dir geht´s doch gut.“, sagt die kleine Schwester. Bei mir funktioniere im Normalfall alles, was ich mir vornehme. Die meisten Menschen würden mich mögen. Und die Liebe sei mir ja ohnehin nicht so wichtig. Sie persönlich würde für ihre große Liebe ja alles tun, sogar ihr Studium abbrechen. Aber emotionale Intelligenz werde unterschätzt.

Ich atme tief durch. Nett sein. Einzige Schwester. Bloßer Neid.

Dann sehe ich auf die Uhr, verabschiede mich hastig und lasse Schwesterchen in den Galeries Lafayette sitzen. „Aber heute abend gehen wir aus.“, freut sich meine kleine Schwester und lacht mich an. „Ich freue mich auch!“, winke ich und stehe schon im Aufzug.

Noch zwei Stunden. Und keine Anfälle von emotionalem Schwachsinn. Nett sein. Nett.

Donnerstag, 6. Januar 2005

Traurige Geschichten

Die Frauen meiner Sippe werden gewöhnlich steinalt. Die Lebenserwartung der männlichen Mitglieder der Familie in männlicher Linie beträgt dagegen, gerechnet auf die Sterbefälle der letzten 50 Jahre – mein Vater hat es ausgerechnet – 58 Jahre, neun Monate und ein paar Tage.

„Aber wie ist das möglich?“, vermute ich verschwiegene Erbkrankheiten. Mein Vater beruhigt mich. Wenn überhaupt Veranlagung im Spiel sei, so handele es sich vielmehr um - nun, über die markantesten Fälle möge ich selbst urteilen:

Onkel M.

„Du erinnerst dich an M.?“ – Wie könnte man ihn vergessen. Mit seinem Ableben verstummte das schrillste Lachen, mit dem je ein Advokat zwischen Bregenz und Tarnopol die Gerichte bezauberte. Angeblich hat die Salzburger Anwaltschaft bis heute das Prädikat „Die Hyäne“ nicht erneut vergeben.

M. hatte irgendwann in den Sechziger Jahren meine Tante L. geheiratet, eine Schönheit in jungen Jahren, in späteren Jahren der Koloss von Salzburg. Ich erinnere mich auch an seine Beerdigung, für die ich gezwungen wurde, ein Turnier abzubrechen, für das ich wochenlang trainiert hatte.

Was man mir Grundschülerin verschwiegen hatte, war allerdings Ort und Umstand dieses Todes, der weder allein noch auch nur vollständig bekleidet eingetreten war. Immerhin starb M. nicht in Salzburg. Allerdings auch nicht dort, wo Tante L. ihn vermutet hatte. Das Fräulein dagegen, das mit ihm die letzte irdische Reise angetreten hatte (von der sie allein zurückkehrte), durfte nicht zur Bestattungsfeier erscheinen – immerhin war sie ja auch schon beim Todeseintritt dabeigewesen.

Onkel F.

Bei ganz pedantischer Betrachtung gehört F. nicht in diese Reihe. Zwar war F.´s Mutter die Cousine einer Dame, die wiederum...aber seine Anwesenheit bei familiären Ereignissen wurde in erster Linie durch seine Frau vermittelt, eine Halbschwester der zweiten Frau meines Großvaters. F. verzehrte die bescheidene Pension eines Frührentners, in welchen Stand er geradezu unwahrscheinlich jung eingetreten war.

F.´s Ableben trat regelgerecht im Spital ein, indes starb er dortselbst nicht an dem Beinbruch, den er sich beim Segeln zugezogen hatte, als er auf der nassen Reeling ausrutschte. Sondern an einem Stück Hackbraten in der Gurgel. Das Essen im dortigen Krankenhaus soll sich aber seither sehr verbessert haben, wie seine unterdesen 89 Jahre alte Witwe versichert.

Onkel T.

Thomas Bernhard genießt nicht zu unrecht einen Ruf als einer der Großen des Theaters, und auch Claus Peymann soll zu Zeiten seiner Jugend einmal ein Theatermann von Rang gewesen sein. Und so ist es eine tröstliche Vorstellung, dass die letzten Worte, die mein Onkel T. vernahm, die Worte des Dichters waren. Um welche Worte es sich dabei genau handelte, ist so detailliert allerdings nicht mehr zu rekonstruieren. Fest steht, dass er noch zur Pause in verhältnismäßiger Munterkeit im Foyer des Musentempels ein Glas Sekt konsumierte, um dann beim Applaus, der die Vorstellung des Bernhard´schen „Heldenplatzes“ beschloss, durch atypische Apathie aufzufallen.

Wie der Tod ganz genau an Onkel T. herantrat, war im Nachhinein nicht mehr nachzuvollziehen, da es seiner Frau auf verschlungenen Wegen gelungen war, die an sich fällige Obduktion irgendwie zu verhindern.

„Scheiße“, sage ich schwer beeindruckt. „Na,“, sagt mein Vater, „Ich bin über´s kritische Alter ja zum Glück hinaus.“


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