Samstag, 24. März 2007

Hauptbahnhof

Hier ist alles hart. Dass es woanders Erde gibt und Gras, Wind und Sonne, ist unvorstellbar. Wer hier nicht friert, hat keine Seele, und ich ziehe mir die Jacke enger um den Leib. Der ICE nach Leipzig hat 25 Minuten Verspätung, teilt eine leidenschaftslose Stimme alle paar Minuten mit, und auf dem Bahnsteig steht ein pummeliges Mädchen in einer viel zu großen Daunenjacke und teilt Kaffee aus, damit die Fahrgäste nicht zu schlecht gelaunt werden, während der Zug irgendwo anders auf der Strecke steht.

Einen Film könnte man hier drehen, der im Weltall spielt, schaue ich mich um, und statt auf der ICE-Strecke nach Süden würde der Zug dort, wo der Bahnhof aufhört, in ein laut- und lichtloses Nichts eintauchen, durch eine Schwärze gleiten, in der keine Lichter von menschlichen Siedlungen künden, und wo gar nichts wäre, außer ein paar scharfkantigen, blinden, grauen Brocken Gestein und Geröll, die durchs Weltall fallen, um irgendwo aufzuschlagen, wo keiner es hört.

Ich hätte Handschuhe mitnehmen sollen, reibe ich mir die Finger und schaue auf die Tafeln über dem Bahnsteig, die den Zug in zwanzig Minuten ankündigen und um Verständnis für die Verspätung werben. Wenn der Zug nicht kommt, fährt du nach Hause, verspreche ich mir, und schließe für ein paar Sekunden die Augen. Schön wäre das, sich ein paar Stunden Zeit zu stehlen, so lange zu schlafen, bis ich mich wieder spüren kann, bis die Betäubung verschwindet, und einen Herzschlag lang stehe ich schon fast wieder auf der Rolltreppe, fahre hoch und verlasse den Bahnhof dorthinaus, wo die Taxen stehen.

„Der Zug fährt gleich ein.“, wirft mir ein fremder Mann ungefragt zu, lacht, als habe er einen Witz erzählt, und verlegen lächele ich ein bißchen mit. „Danke.“, sage ich und drehe mich schnell um, bevor er noch etwas sagen kann, und eine Bekanntschaft beginnt, für die ich zu müde bin, viel zu müde, wie für alles, was heute noch kommen kann oder morgen oder irgendwann sonst.

Schlafen, denke ich, und steige dann doch in den Zug. "Nach Leipzig bitte einsteigen.", schließen sich die Türen, und nun freue ich mich doch auf die Lesung und bin ein bißchen gespannt, wie es wohl wird in Leipzig, ob die Sachsen mich mögen, ob die Texte gut genug sind, und der Abend es wert sein wird, im Bahnhof zu frieren, zu warten und durch die Kälte zu fahren, statt einfach zu Hause zu sein und zu schlafen.

Mittwoch, 21. März 2007

Leipzig, Berlin

Zu den schlimmsten Ängsten, die ich mir so halte, gehört ja die Vorstellung, ganz allein auf einem riesigen Platz zu stehen, rechts und links das schiere Nichts, und lauter Häuser mit geschlossenen Fensterläden, hinter denen sich fremde Leute über mich lustig machen.

Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht verständlich, dass mehr als die Angst vor Lesungen die Angst vor Lesungen ohne Publikum mich umtreibt, herumzustehen, auf die Uhr zu starren, und keiner kommt. Gegen diese – bisher zum Glück noch nicht verwirklichte – Furcht tritt sogar die Angst, mich vor Leuten vollkommen zum Depp zu machen, in den Hintergrund, und so freue ich mich auch dann über Ihre Anwesenheit

Am 22.03.2007
Um 21.00 Uhr
Im Volkshaus Leipzig
Karl-Liebknecht-Str. 32
04107 Leipzig
Zur Webloglesung des Handelsblatts

Und

Am 23.03.2007
Um 19.00 Uhr
In der Weekend-Gallery
Schlossstraße 62
14059 Berlin
Zur Lesung der EXOT-Redaktion,

wo ich – jeweils umgeben von anderen, reizenden und sehr begabten Menschen Texte verlesen werde, die in diesem Weblog veröffentlicht worden sind.

Montag, 19. März 2007

Befragt

In omnibus requiem quaesivi
et nusquam inveni nisi in angulo cum libro.

Frau Fragmente antworte ich ja immer gern:

Gebunden oder Taschenbuch?

Das ist mir gleich. Ich schleppe in aller Regel riesige Handtaschen mit mir herum, unförmige Beutel, in denen man Kleintiere transportieren könnte, und die so schwer auf meiner Schulter lasten, dass ich mit 50 ganz schief sein werde, aber das ist mir egal. Auf das Gewicht eines Buches kommt es in diesen Taschen auch nicht mehr an. Im Regal finde ich gebundene Bücher schöner.

Amazon oder Buchhandel?

Ich liebe Antiquariate, aber aus Gründen, für die ich keinerlei Verständnis hege, haben abends immer schon alle Geschäfte zu, wenn ich aus dem Büro komme. Dann bleibt mir oft nichts als amazon, aber besonders gern kaufe ich da nicht.

Lesezeichen oder Eselsohr?

Eselsohren. Ich weiß, das macht man nicht, aber Lesezeichen fallen mir immer aus den Büchern.

Ordnen nach Autor, nach Titel oder ungeordnet?

Nach Genre, nach Autor, nach Erscheinungsdatum. Ich habe diesbezüglich einen Knall und kann sehr ungemütlich werden, wenn man meine Bücher verstellt.

Behalten, wegwerfen oder verkaufen?

Behalten. Hier – und nur hier – bin ich raffgierig, und gebe selbst geliehene Bücher nur ungern wieder her.

Schutzumschlag behalten oder wegwerfen?

Behalten natürlich.

Mit Schutzumschlag lesen oder ohne?

Mit.

Kurzgeschichten oder Roman?

Mit Kurzgeschichten ist es doch immer dasselbe: Kaum hat man die dramatis personae kennengelernt, beginnt Anteil zu nehmen, interessiert sich für ihr weiteres Schicksal – dann ist die Geschichte aus, und man sitzt dumm herum mit nichts als seinem brennendem Interesse. Ich mag keine Kurzgeschichten, lese keine Kurzgeschichten, und finde sogar dünne Romane oft unbefriedigend. Mein Aufruf daher: Schriftsteller dieser Welt, schreibt dickere Bücher!

Sammlung (Kurzgeschichten von einem Autor) oder Anthologie (Kurzgeschichten von verschiedenen Autoren)?

Nichts dergleichen.

Harry Potter oder Lemony Snicket?

Kenne weder noch.

Aufhören, wenn man müde ist oder wenn das Kapitel endet?


Eine missliche Sache, fast das Ärgerlichste am vorgegebenen Tagesablauf eines berufstätigen Menschen: Nicht weiterlesen können, wenn man doch weiterlesen will.

„Die Nacht war dunkel und stürmisch“ oder „Es war einmal“?


Weder noch, leider. Romane, in denen es dunkelt und stürmt, lassen nur das Schlechteste erwarten. Märchen mag ich auch nicht, glaube ich, möglicherweise mag ich aber auch nur keine Leute, die Märchen mögen. Diese Chai trinkenden, lebensbejahenden, optimistischen und oftmals blonden Geschöpfe, die in ihrer Jugend Wandergitarre gespielt haben und Tierschutz wichtig finden, sollte es meiner Meinung nach gar nicht geben.

Kaufen oder Leihen?

Natürlich kaufen. Ich gebe so ungern wieder her.

Neu oder gebraucht?

Gebraucht. Ich mag den Geruch und das weiche Papier alter Bücher.

Kaufentscheidung: Bestsellerliste, Rezension, Empfehlung oder Stöbern?

Schwer zu sagen. Meistens nicht gezielt, sondern in irgendwelchen Kisten auf dem Flohmarkt oder im Antiquariat gefunden.

Geschlossenes Ende oder Cliffhanger?

Was für eine idiotische Frage.

Morgens, mittags oder nachts lesen?

Nachts.

Einzelband oder Serie?

Einzelband.

Lieblingsserie?

Keine.

Lieblingsbuch, von dem noch nie jemand gehört hat?

Walter Hasenclever, "Irrtum und Leidenschaft". Kennt aus mir schleierhaften Gründen keine Sau. Aus lauter Verehrung wollte ich ja vor einiger Zeit hier einmal eine allgemeine Hasenclever-Renaissance einläuten, leider ist nichts draus geworden.

Lieblingsbuch, das du letztes Jahr gelesen hast?

Daniel Kehlmann, "Ich und Kaminski". Kehlmann schreibt so gut, dass man sich selbst in ein Buch verliebt, in dem ausschließlich unsympathische Menschen vorkommen. Da sitzt man dann und beschließt, nie wieder eine Zeile zu schreiben, weil der so gut schreiben kann, und man selbst nicht.

Welches Buch lesen Sie gegenwärtig?

Reinhold Schneider, "Der Balkon".

Absolutes Lieblingsbuch aller Zeiten?

Eins? Das ist Böse. Vielleicht Christian Kracht, "Faserland". Oder doch Oscar Wilde’s "Bildnis des Dorian Gray"? Oder Thomas Mann, denn ich immerzu lesen kann, von morgens bis abends und dann wieder von vorn? Augustinus, von dessen Bekenntnissen es nur vollkommen indiskutable Übersetzungen gibt, und den ich neu übersetzen werde, wenn ich einmal alt bin? Oder Hilde Spiel “Lisas Zimmer“, dessen Mängel einem förmlich ins Gesicht springen, aber das trotzdem etwas besitzt, das ich gerne hätte: Grazie und Anmut.

Weitergeworfen an den charming Herrn SvenK und Frau Arboretum.

Sonntag, 18. März 2007

Die Verwerflichkeit des Eingehens von Ehen

Ich habe es immer gewusst, und nun ist es amtlich: Hochzeiten, meine Damen und Herren, sind das Schlimmste, Hochzeiten sind unbedingt zu vermeidende Ereignisse, und nur sehr, sehr netten Leuten ist es zu verzeihen, wenn sie mitten im Mai, zur besten Reisezeit also, Hochzeit feiern.

Nehmen wir beispielsweise einmal die I. Eine zweifellos reizende Person, ein lustiger, blonder Kugelblitz, eine immer gern gesehene Erscheinung auch ihr fabelhaft freundlicher Bräutigam, indes – die Hochzeit steht in Kürze bevor, und macht bereits jetzt, zwei Monate vor dem großen Tag, nichts als Ärger.

Nichtsahnend sitze ich also letzte Woche an meinem Arbeitsplatz, jonglierend mit Hörer, Stift und Diktiergerät, rechts und links umgeben von riesigen Stapeln Papier, massiven Mittelgebirgen bestehend aus Akten, und nicht eingedenk des mir gleichwohl an sich bereits bekannten Hochzeitstermins der I., da klingelt das Telephon. „Modeste“; melde ich mich, denn es ist mein eigener Apparat, und habe die C. an der Strippe.

„Modeste, was machst du Pfingsten?“, werde ich kalt überrascht, und stammele irgendetwas, was Verfügbarkeit kommuniziert haben muss, denn die C. fährt fort. Nach Madrid könne man fahren, die Flüge seien günstig, ein Hotel auch nicht das Problem, und ich möge buchen. Die rechte Hand am Hörer, die linke auf der Tastatur, taste ich mich durch das Menü, gebe Datum und Uhrzeit ein, Namen und Kreditkartennummer, und beende das Gespräch, denn nervös wippen meine Akten auf papierenen Zehenspitzen hin und her, und erst Stunden später, knapp vor Mitternacht und vollkommen ausgesaugt von den Anforderungen des Tages, stehe ich im heimischen Korridor.

„Pfingsten fahre ich mit der C. nach Madrid.“, teile ich dem geschätzten Gefährten freudig, wenn auch erschöpft, mit und werfe meine Stiefel in die ungefähre Richtung der Schuhschränke.
„Pfingsten hast gesagt?“, gibt der J. zurück und legt sein Gesicht in Falten. Pfingsten werde nirgendwo hingefahren. „Wie jetzt?“, frage ich ein wenig unwillig, überlege, was dem geschätzten Gefährten in den Sinn gekommen sein mag und knülle meinen Mantel auf das Sofa.

„Hast du I.'s Hochzeit vergessen?“, lässt der J. die Bombe platzen. Ziemlich begossen und ein klein wenig fassungslos stehe ich im Wohnzimmer. Verdammt. „Ich will aber lieber nach Spanien!“, lasse ich mich in einen Sessel fallen und ziehe die Füße vor lauter Trotz ganz weit Richtung Kopf.

„Hilft nichts.“, weist der geschätzte Gefährte mein Ansinnen zurück und spricht mir streng zu. So etwas würde man mir nicht verzeihen, heißt es, und im Übrigen gehöre es sich einfach nicht, am Ehrentag lieber Freunde einfach abzuhauen. Das sehe ich dann auch ein, irgendwann, ein paar Stunden später.

Die J., so verabrede ich am darauf folgenden Sonntag, werde mich als Reisebegleitung vertreten. Die C. ist’s zufrieden, die Hochzeit wird mit meiner Beteiligung stattfinden, und nur ich, nur ich sitze daheim, male mir alle Schönheiten Madrids aus und zische leise vor mich hin:

Hochzeiten sind das Schlimmste.

Sonntag, 11. März 2007

Madame Modeste will eine Kur

Manchmal, meine sehr verehrten Damen und Herren, fühle ich mich alt. Wenn ich zwanzig Minuten zügig gehe, lockern sich schwarze Brocken in meiner Lunge und fallen mir aus dem Mund. Meine Magenschleimhaut zieht sich sofort zusammen, wenn ich Sekt trinke, reißt ein und gibt handtellergroße Stellen frei, die sodann von der Magensäure angegriffen und unter unangenehmen Körperempfindungen verdaut werden. Von Tag zu Tag werde ich zudem geräuschempfindlicher und male mir manchmal aus, wie ich Leute, die Lärm veranstalten, mit einer lautlosen, aber tödlichen Waffe zum Schweigen bringe.

Gegen diese Erscheinungen kann man natürlich überhaupt nichts machen. In meinem Alter, sage ich mir dann, ist das eben einfach so, und beobachte sorgfältig Leute, die noch älter sind als ich, ob ihnen ab und zu ein Arm abfällt oder ein paar Zähne im Brot steckenbleiben, wenn sie etwas essen.

Eine Kur müsste man machen, sage ich mir dann manchmal, lege mich ins Bett und male mir ganz genau aus, wie das wäre, in Bad Gastein etwa oder Altaussee oder so. Morgens würde ich um sieben aufstehen, würde joggen oder unter Anleitung Gymnastik machen. Rohkost gäbe es immerzu, so dass ich abnehmen würde, dass die Pfunde nur so krachen. Ab und zu - vielleicht wöchentlich - würde man mich in Schlamm legen oder kalt abspritzen für bessere Haut.

Den ganzen Tag müsste ich Wasser trinken. Angestellte des Kurbetriebs in weißen Kitteln würden sanft zu mir sprechen und mir warme Steine auf den mürben Bauch legen, damit sich mein Kräftezentrum regeneriert. Abends höre ich jeden Tag, denke ich, das Beste von Johann Strauss. Nach drei Wochen wäre ich quasi 22, schlank, straff und furchterregend energiegeladen. Dann fahre ich zurück nach Berlin.

Kuren aber gibt es, soweit ich weiß, nur für noch ältere Leute, krebskranke Rentner, Rekonvaleszenten, denen nicht kleinere Ärgernisse, sondern schwere Gebrechen zur Last fallen, und jemanden wie mich schickt auch ein skrupelloser Arzt nicht so einfach drei Wochen nach Bad Ems.

Zwar wird also, überlege ich, daher wohl nicht die Gemeinschaft aller in meiner Krankenkasse Versicherten meine Kur bezahlen. Aber kann man auch einfach so auf Kur und zahlt das selber? Gibt es die Selbsteinweisung in die Kurklinik? Macht das außer mir vielleicht schon irgendwer? Oder bleibt mir nichts übrig, als eins dieser neumodischen Wellness-Hotels in Anspruch zu nehmen? Sind die Wellness-Hotels gar die Kurkliniken von heute? Oder fahre ich besser ins osteuropäische Ausland und kure da?

Fragen, Fragen, und sogar Google bleibt stumm.



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