Über Bücher

Sonntag, 3. Februar 2008

Ein zum Rühmen Bestellter

Bücher des Jahres (3)

Friedrich Sieburg, schreibt Marcel Reich-Ranicki 1967, habe mehr Geist als Format besessen, mehr Macht als Autorität, und seine Koketterie habe seinen Geschmack beeinträchtigt. Die zeitgenössische Literatur habe Sieburg – immerhin einer der einflussreichsten Kritiker gerade der Fünfziger Jahre – verkannt. Weder Marie-Luise Kaschnitz, noch Koeppen, weder Nossack noch Hildesheimer, weder Dürrenmatt nicht Peter Weiss, Schnurre, Eisenreich noch Johnson habe er auch nur einer Erwähnung wert gefunden. Das rasche Verblassen des Renommés des damals erst einige Jahre verstorbenen Kritikers der FAZ erkläre sich zumindest maßgeblich auch aus dieser Abkehr von der Gegenwart.

Uns aber, die diese vierzig, fünfzig Jahre vergangene Gegenwart nicht mehr im selben Maße als maßstäblich gilt, vermag dieses Diktum wenig zu beeindrucken. Kein Buch der als Beleg für das mangelnde Verständnis der Gegenwartsliteratur von Reich-Ranicki herangezogenen Autoren gehört zu jenen, die ich auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen würde, und insbesondere diejenigen Schriftsteller, die man der Gruppe 47 zuordnet, haben mich herzlich gelangweilt. Die Abkehr dieser Autoren von einer Tradition, deren moralische Diskreditierung ihren ästhetischen Glanz aus unserer Sicht nicht zu zerstören vermochte, erscheint uns aktuell nicht mehr als verdienstvoll, und so könnte es durchaus erstaunen, dass eine Renaissance derjenigen Essais Sieburgs, die nicht nur der schnellen Vermittlung des tagesaktuell Lesenswerten dienen, bisher – dem konservativen Zeitgeist zum Trotz – ausbleibt. Ganz unerklärlich ist dies allerdings nicht:

Mag auch das allzu Saloppe beginnen, ein wenig zu langweilen, und die Annäherung der Schrift- an die gesprochene Sprache uns nicht mehr als frisch, als neu und unmittelbar erscheinen: Das allzu gravitätische, allzu parfumierte Deutsch, mit dem Sieburg all das, was er beschreibt, verpackt wie die Verkäuferin einer teuren Boutique ein Stück Seife in drei Lagen Tüll und glänzendes Papier einwickelt, versperrt die Sicht auf den Gegenstand seiner Betrachtung oftmals nicht wenig. Entsprechend erfährt man etwa aus Sieburgs Frankreich-Büchern wenig über Frankreich, kaum etwas über die französische Gesellschaft, nicht viel über die französische Literatur, und auch die Charaktere, die Sieburg beschreibt, kann man sich nur mit Mühe vorstellen. Tatsächlich weiß man nach vollendeter Lektüre nur wenig mehr über das Paris der Zwischenkriegszeit als zuvor. Viel aber – und bisweilen lohnt dies den Kauf und die aufgewandten Stunden – erfährt man über den Autor.

Nicht besonders sympathisch erscheint freilich Sieburg selbst nach eigenen Zeugnissen. Auffallend die Larmoyanz, die fast alle konservativen Stimmen nach dem 2. Weltkrieg vereint, als habe man dieser Generation bürgerlicher Denker Unrecht getan, als man ihre Fehler und Verbrechen nicht auf der Stelle vergaß. Ich kenne keine Ausnahme: Der denkende Konservatismus der letzten 60 Jahre tritt einem stets mit einer leicht beleidigt wirkenden Miene entgegen, die es schwer macht, diese an sich nicht vollkommen unsympathischen Menschen posthum ernst zu nehmen. Sieburg ist hier keine Ausnahme.

Befremdlich auch der geradezu putzige Snobismus. Die Selbstgefälligkeit, mit der manche freilich gelungene Formulierung auch dort angebracht wird, wo sie der Natur der Sache nach keinen Glanz entfalten kann noch soll, strengt auch den bereitwilligen Leser mächtig an, und doch, jeweils kurz vor dem Moment, in dem man zu einem anderen Buch greifen würde, das den Nachttisch beschwert, berührt ein poetisches Bild, ein schöner, demütiger Satz, und man schlägt Unsere schönsten Jahre, die Bilanz eines halben Lebens in Frankreich, trotz des scheußlichen,überaus kitschigen letzten Kapitels mit einem kopfschüttelnden Lächeln zu.

Auf dieses Päckchen Nachsicht sind die Biographien Sieburgs keinesfalls angewiesen. Die Betrachtung Robespierres, vor guten zehn Jahren gelesen, kann all das für sich in Anspruch nehmen, was die literarische Biographie an Vorzügen für sich geltend machen kann. Für diesen Satz hätte Sieburg mir Strychnin in den Sekt geschüttet, indes meine ich, behaupten zu dürfen: Wer an Stefan Zweigs Biographien nichts als den allzu schlamperten Stil bemängelt, wird mit Sieburg glücklich werden. Ein Sinn für das Dramatische, für den großen Moment, für die welthistorische Sekunde, in der sich aus dem Alltäglichen das Überlebensgroße formt, und ein Stil, der sich – zumeist wenigstens – dem Gegenstand der Betrachtung unterordnet, macht hier das Lesen zum Vergnügen. Die große Biographie Chateaubriands, die Darstellung der hundert Tage der Rückkehr Napoleons: Eine fast ungeschmälerte Freude, bei allen Abweichungen der Art und Weise, wie wir Geschichte betrachten, stets angenehme, nie langweilige Stunden.

Großartig auch die Miniaturen über die großen Toten. Maupassant. Heine. Kleist, in denen Sieburg sich, bewahrend und bewundernd, dem Geist einer Epoche, eines Menschen, dem Duft der Sprache selbst nähert, um bisweilen all das, was wir als Leser spüren, ohne es fassen und ausdrücken zu können, in einer einzigen, einer schlagenden Formulierung zärtlich zu umfassen.

Hier mag der Kreis sich schließen. Der – gleichfalls verblassenden – Gegenwart seiner Tage mag Sieburg das Angemessene schuldig geblieben sein. Dort aber, wo die ferne Vergangenheit nach Bewunderung verlangt, nach Liebe sogar, dort bleiben ein paar Aufsätze, der Abdruck einer Sehnsucht nach dem ganz gerundeten Schönen, nach dem, was an Sprache der Anbetung wert erscheint, und wenn es auch nicht mehr sein mag, was bleibt: Für diese zwei, drei schmalen, längst vergriffenen Bände lohnt es sich, diesen einst mächtigen Mann nicht ganz und gar zu vergessen.

Friedrich Sieburg, Unsere schönsten Jahre, 1950;
ders., Robespierre, 1935;
ders., Chateaubriand, 1959;
ders., Napoleon, die hundert Tage, 1956;
ders., Nur für Leser. Jahre und Bücher, 1974 (Anthologie).

alle antiquarisch

Samstag, 19. Januar 2008

Lew Tolstoj, Die Kreutzersonate

Bücher des Jahres (2)

Posdnychev, erzählt uns Tolstoj, hat sich nach oberflächlicher Bekanntschaft unglücklich verheiratet. Ständig streitet sich Herr Posdnychev mit seiner Frau, die er kaum mehr liebt, gleichwohl aber begehrt, und zeugt mit ihr ein Kind nach dem anderen. Schließlich übersiedelt die ganze Familie vom Land in die Stadt.

Dort – der einundsechzigjährige Tolstoj ist kein Freund des Stadtlebens – ist es dann ganz aus mit dem Eheleben der Posdnychevs, wie es sich der erzählende Eheherr vorstellt. Frau Posdnychev soll nach ärztlichem Rat keine Kinder mehr bekommen, und blüht, endlich und nach Jahren ohne Säugling an der Brust, wieder auf. Eine reife, üppige, nach wie vor schöne Frau führt uns Tolstoj vor, eine besorgte, wohl gute Mutter, eine den Attacken ihres Mannes hilflos ausgesetzte Frau, deren Zorn letztlich wohl nichts als eine Reaktion auf die auch für den Leser kaum nachvollziehbaren Launen ihres Mannes darstellt.

Als ein Herr Truchatschevskij auftaucht, ist eigentlich schon alles vorbei. Als habe Posdnychev nur auf einen Anlass gewartet, zieht er den neuen Bekannten förmlich an den Haaren zu seiner Frau, lässt beide allein, schafft Gelegenheit, wartet, umkreist seine Frau wie ein Greif seine Beute, und stößt schließlich zu. Mit der ganzen erzählerischen Meisterschaft des 19. Jahrhunderts legt Tolstoj uns die Hand um den Griff eines Dolchs, führt uns in die Wohnung der Eheleute, und lässt uns schließlich zustechen, links unter den Rippen, den Widerstand des Korsetts überwinden, und ihr das Fleisch zerschneiden, bis sie sinkt, blutet und stirbt. Mit blauen Schatten unter den Augen zeigt Tolstoj am Ende die tote Frau, am Bett ihr Mann und Mörder.

Einen widerlichen Kerl führt uns Tolstoj mit diesem Posdnychev vor, und lässt ihn zudem allein erzählen, unangenehm nah, gefiltert nur durch die dürftige Rahmenhandlung einer Zugfahrt. Schwer auszuhalten ist die Suada, in die er seine Geschichte einbettet, und auf die es Tolstoj ankam, wie es scheint, denn immer wieder führt er uns, führt er Posdnychev zurück zu seiner Lesart der Dinge.

Dabei ist es nicht die Eifersucht des Mannes, die uns anwidert. Kaum ist es die Raserei. Abstoßend ist vielmehr die Selbstgerechtigkeit, mit der Tolstoj seinen Posdnychev ausstattet, der – so will es der Erzähler – am Ende herausgefunden haben will, dass es die körperliche Liebe sei, die seine Ehe ruiniert und seine Frau umgebracht habe. Etwas reichlich Selbstgefälliges, Fettiges, hat Tolstoj seinem Geschöpf mitgegeben, wie es da sitzt, im Eisenbahnabteil und schwadroniert, etwas Rechthaberisches und gleichzeitig Heuchlerisches, denn wenn die Gesellschaft mit ihrer Akzeptanz der Leidenschaft schuld am Tod der armen Frau gewesen sein soll, so sinkt wohl die Verantwortung des Posdnychev im gleichen Maße nach dem Gesetz der kommunizierenden Röhren.

Dass der von Posdnychev vertretene Erklärungsansatz, die hohe gesellschaftliche Akzeptanz genossener Geschlechtlichkeit habe den Tod seiner Frau verursacht, nicht überzeugt, versteht sich fast von selbst. Dass abseits moralischer Fragen die fehlende Logik im Verhältnis von Ursache und Wirkung an dieser These nicht bereits 1889 aufgefallen sein soll, ist an sich unvorstellbar. Dass der Schöpfer von Posdnychev und seiner Frau dies nicht bemerkt haben will, wie aus einem 1890 verfassten Nachwort Tolstojs hervorgeht, streift das Unfassbare, und nur die Verblendung, die mit starken Überzeugungen stets einherzugehen pflegt, erklärt, dass Tolstoj offenbar tatsächlich der Überzeugung war, ein wirksames Plaidoyer für die Keuschheit verfasst zu haben, für die es gute Argument gibt, nicht zuletzt die Bequemlichkeit, kaum aber jene, von denen Tolstoj spricht.

Zudem kaum zu erklären und eine - sicherlich existierende - eigene Notiz wert ist der immense Eindruck, den der schmale Band bei Zeitgenossen hinterlassen haben soll. Mit der psychologischen Disposition, die diesen Erfolg verursacht hat, möchte man nicht gefrühstückt haben, und den Einfluss der Erzählung kann man sich zudem kaum als wohltuend vorstellen. Sollte allerdings neben diesem erzieherischen Effekt ein ästhetisches Vergnügen den Erfolg der Novelle mitbegründet haben, so wäre auch dies nicht absolut, aber relativ zu den anderen Werken des Autors nur bedingt nachvollziehbar, gleichwohl nicht völlig abwegig, denn gelangweilt habe ich mich tatsächlich keine Zeile dieses ansonsten - sofern dies auszusprechen verstattet ist - etwas ärgerlichen Buches.

Lev N. Tolstoj, Die Kreutzersonate.
1889, € 7,--

Montag, 7. Januar 2008

Thomas Karlauf, Stefan George

Bücher des Jahres (1)

Mit Stefan George geht es einem ja wie mit manchen entfernten Bekannten, die man ständig irgendwo zufällig trifft. Man geht also meinetwegen einkaufen, Kaisers am Teutoburger Platz, und an der Käsetheke steht der W. und kauft ein halbes Pfund Gorgonzola. „Hallo W.!“, grüßt man über seinen Wagen hinweg, denkt sich nichts dabei, aber zwei Tage später trifft man den W. wieder, diesmal bei einem Konzert.

Trifft man den W. in den nächsten Monaten auch noch im Alten Museum, in der U 2, und abends im 103 so rein zufällig und nebenbei, und versucht der W. auch nicht, einen in Gespräche zu verwickeln, weil er einen heimlich liebt, und die Treffen keineswegs zufällig zustande kommen: Dann schätzt der W. ganz offenbar und rein zufällig lauter Dinge, die man selber gleichfalls mag, und wohnt zudem auch noch um die Ecke.

Ähnlich Stefan George: Man liest, Jahre ist's her, etwas über die Wirkungsgeschichte des Caius Iulius Casesar, und siehe da: Stefan George schaut, leicht versteckt, Friedrich Gundolf über die Schulter, an dem vorbei man diesbezüglich ja kaum kommt. Man blättert, irgendwann als Studentin, in einer Geschichte des deutschen Widerstandes und sieht auf einer Photographie den alten, etwas krötenhaften Dichter mit den sehr, sehr jungen Brüdern Stauffenberg, die wahnsinnig sportlich aussehen und unsympathisch rotwangig und robust. Friedrich II., quasi persönlich (und großartig) erfunden von Ernst Kantorowicz. Der geliebte Hofmannsthal. Max Weber: Wo man hinkommt, George ist schon da, und sieht etwas gelangweilt, titanisch mit wallendem, grauen Haar über einen hinweg. George hat viele Leben begleitet, streckenweise manchmal, manchmal prägend, deren Ertrag mir etwas bedeutet, wie man so sagt.

Einmal herüberzugehen, und dem Dichter die Hand zu schütteln – schön haben’s geschrieben, herr dichter, so in etwa – verbietet sich in diesem Fall von selbst. Ich habe mich nie länger oder intensiv mit George beschäftigt. Auch das Lächerliche, das speziell den Kosmikern auch in den Augen Gutwilliger anhaftet, diese immer etwas anrüchige geistige Nähe zu unguten Gefilden: Man hält sich fern von denen, die etwas zu lauthals den Dichter loben und schätzt die Gedichte eher aus sicherer Entfernung.

Wie es aber so geht mit dem entfernten Bekannten W. - ganz umsonst trifft man sich nicht. Wer schätzt, was man selber schätzt, wer in den selben Bars ein Stammgast ist, der ist gar so weit weg nicht, und so liest man die vielgelobte Biographie von Thomas Karlauf gern und mit durchaus gesteigertem Interesse, leise kopfschüttelnd von Zeit zu Zeit, grammweise befremdet, bisweilen abgestoßen von diesem aufs Äußerste stilisierten Leben und dem Sicht-Ernst-Nehmen in einem sehr, sehr unüblichen Maße, und doch mit einem spürbaren Neid auf den Besitz einer gefügten, steinernen Vorstellung von sich, von der Welt, und von der Weise, wie die Welt sich um einen zu drehen hat, wenn man ein großer Dichter ist, denn das - und dies tritt in dieser ansonsten sehr gut lesbaren, sehr angenehmen und nichts aussparenden Biographie ein wenig in den Hintergrund - das war er eben auch, um nicht zu sagen: Dies ist des Pudels Kern, und alles andere nur flüchtige, nur zeitliche Verkleidung.

Thomas Karlauf, Stefan George - Die Entdeckung des Charisma.
2007, € 29,95.

Sonntag, 22. Juli 2007

Das tägliche Leben

tua res non agitur

Von keiner europäischen Epoche, will mir scheinen, ist unsere Vorstellung so präzise wie von den knapp 150 Jahren zwischen dem Aufstieg Napoleons und dem Tod Adolf Hitlers. Dies mag zum einen an den technischen Möglichkeiten der Dokumentation liegen. Überdies fördert die zeitliche Nähe und die massenhafte Existenz von Zeitzeugnissen in Form von Tagebüchern, Briefen etc. aus so gut wie allen europäischen Regionen und Gesellschaftsschichten unsere Vorstellung, wie das Leben der Menschen tatsächlich verlaufen sein muss. Zu einem nicht geringen Teil aber beruht unsere Kenntnis dieser Jahrzehnte auf der Präzision ihrer Literatur.

In jenen Jahren, so wissen wir, gelangt der Roman zu einer seither kaum mehr übertroffenen Meisterschaft, die Gegebenheiten des äußeren Lebens mit einer Genauigkeit abzubilden, die es uns ermöglicht, den Speiseplan einer Lübecker Kaufmannsfamilie ebenso nachzuvollziehen wie die genauen Umstände des Aufstiegs eines französischen Journalisten, die Urlaubsgewohnheiten einer Wiener Arztfamilie oder die Art und Weise, wie ein russischer Aristokrat Weihnachten feiert. Wir wissen, welche Vorbereitungen ein Ball in der britischen Provinz erfordert. Wir kennen aber auch nicht minder die Ängste eines Pragers Angestellten, die Inkonsequenzen einer Gesellschaft, die eine russische Dame am Ende unter die Eisenbahn bringen, und hören den Lügen dieser Epoche ebenso zu wie ihren Witzen, ihren Wahrheiten, ihren Traurigkeiten und ihrem Tod. Wir sind, mit einem Wort, mit dem alltäglichen Leben des Bürgers des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. in hohem Maße vertraut.

Mit dem Krieg, mit der Gruppe 47 vielleicht, vielleicht auch noch später, hört die deutschsprachige Literatur langsam erst, dann schneller auf, das alltägliche Leben zu beschreiben. Es scheint, als ob insbesondere das Leben des Durchschnittsbürgers stark an Interesse für diejenigen verloren hat, die es zwar meist – dem eigenen Herkommen nach – kennen müssten, es zu beschreiben aber wenig Liebe zeigen. Spielt ein Roman doch einmal in der Welt der dauergewellten Vorzimmerdamen, der rheinischen Notare oder der Sachbearbeiter in einer großen Behörde, so scheinen die Autoren ihrem Sujet nie ganz zu trauen.

Nun gibt es sicherlich keinen Grund, die Welt eines badischen Hosenfabrikanten langweiliger zu finden, als die Welt der vermutlich überaus banalen Madame Bovary. Gleichwohl flüchtet die Literatur entweder in die vermeintlich pittoreske Welt an den Rändern der Gesellschaft, die – so meine Vermutung – keinesfalls so beschaffen sein kann, wie sie in den Romanen insbesondere der letzten drei Jahrzehnte auftaucht. Das Leben auf der Straße mag des Erzählens wert sein – Gründe, es interessanter, reicher oder vielschichtiger zu finden als das Leben desjenigen, der sich Gedanken nicht über das „Ob“ eines Bettes zur Nacht, sondern über das „Wie“ seiner Schlafzimmereinrichtung macht, sind nur schwer ersichtlich.

Flüchtet die Literatur nicht aus dem Leben der Mittelschicht (die gerade amerikanische Autoren zeitgleich durchaus zu inspirieren scheint), so misslingt die Darstellung des alltäglichen Lebens oft aus einem etwas überraschenden Grunde: Die Verachtung des Bohémiens für den Bürger ist weder neu, noch war das 19. Jahrhundert frei von diesem Dünkel. Allerdings scheint es den Autoren jener Jahre besser gelungen zu sein, der Kraft ihrer Worte vertrauend, auf übertreibende, ihren Gegenstand verzeichnende Darstellungen zu verzichten. Dem gegenüber entspricht die Darstellung des Alltagslebens der letzten Jahrzehnte und der unmittelbaren Gegenwart keineswegs der Realität, noch sind die Protagonisten so flach, so dumm oder so brutal, wie dies die Gegenwartsliteratur nahelegt. Ob hier Unerfahrenheit oder schlichte Arroganz die Quelle der Fehldarstellung bilden, gehört zu denjenigen Dingen, über die nachzudenken wohl ebenso wenig brächte wie ein paar direkte Fragen.

Dieses etwas eigenartige Verhältnis zur bürgerlichen Realität führt zu sonderbaren Konsequenzen: Da der Held einer tragischen Liebesgeschichte offenbar nicht Mitarbeiter der Schadensabteilung einer Versicherung sein darf, und die erfolgreiche Umsetzung einer Firmenfusion keinen Gegenstand von Romanen bildet, spielt ein guter Teil der Gegenwartsliteratur in einer Welt, die es so nicht gibt. Die Einbettung in eine vollkommen künstliche oder schlicht nur angedeutete Umgebung enthebt den Autor der Notwendigkeit, eine realistische Darstellung der Welt zu liefern, wie sie aussieht, wie sie riecht und schmeckt, und wie diejenigen, die sich in ihr bewegen, denken, wie sie lieben, was sie ärgert, und wie sie sprechen. Das in der deutschen Kunstprosa der Gegenwart gesprochene Idiom ist vollkommen artifiziell.

Im Ergebnis findet eine Dokumentation des Alltagslebens, wie sie für das 19. Jahrhundert mit einer fast beängstigenden Lückenlosigkeit existiert, nicht mehr statt: Die ernste Literatur, die auf Kritiken und Preise schielt, will ihre Kunstfertigkeit nicht auf das Leben der Mehrheitsgesellschaft verschwenden. Die Unterhaltungsliteratur ist, soweit ich sie kenne, dazu nicht in der Lage. Die Tragik, die Ambivalenz und das ganz normale Leben des Bürgers dieser Tage findet damit keinen Niederschlag in der anspruchsvollen zeitgenössischen Literatur, die den Wunsch, ihre Zeit abzubilden, aufgegeben zu haben scheint zugunsten eines Anspruchs, der viel mit Artistik zu tun hat, und wenig, will mir scheinen, mit dem Wille, uns aufzubewahren mit unseren Abenteuern, unseren Träumen, unseren Fehlern und Verbrechen und dem, was unsere Tage tatsächlich füllt, und so wird unsere Welt mit uns sterben.

Montag, 19. März 2007

Befragt

In omnibus requiem quaesivi
et nusquam inveni nisi in angulo cum libro.

Frau Fragmente antworte ich ja immer gern:

Gebunden oder Taschenbuch?

Das ist mir gleich. Ich schleppe in aller Regel riesige Handtaschen mit mir herum, unförmige Beutel, in denen man Kleintiere transportieren könnte, und die so schwer auf meiner Schulter lasten, dass ich mit 50 ganz schief sein werde, aber das ist mir egal. Auf das Gewicht eines Buches kommt es in diesen Taschen auch nicht mehr an. Im Regal finde ich gebundene Bücher schöner.

Amazon oder Buchhandel?

Ich liebe Antiquariate, aber aus Gründen, für die ich keinerlei Verständnis hege, haben abends immer schon alle Geschäfte zu, wenn ich aus dem Büro komme. Dann bleibt mir oft nichts als amazon, aber besonders gern kaufe ich da nicht.

Lesezeichen oder Eselsohr?

Eselsohren. Ich weiß, das macht man nicht, aber Lesezeichen fallen mir immer aus den Büchern.

Ordnen nach Autor, nach Titel oder ungeordnet?

Nach Genre, nach Autor, nach Erscheinungsdatum. Ich habe diesbezüglich einen Knall und kann sehr ungemütlich werden, wenn man meine Bücher verstellt.

Behalten, wegwerfen oder verkaufen?

Behalten. Hier – und nur hier – bin ich raffgierig, und gebe selbst geliehene Bücher nur ungern wieder her.

Schutzumschlag behalten oder wegwerfen?

Behalten natürlich.

Mit Schutzumschlag lesen oder ohne?

Mit.

Kurzgeschichten oder Roman?

Mit Kurzgeschichten ist es doch immer dasselbe: Kaum hat man die dramatis personae kennengelernt, beginnt Anteil zu nehmen, interessiert sich für ihr weiteres Schicksal – dann ist die Geschichte aus, und man sitzt dumm herum mit nichts als seinem brennendem Interesse. Ich mag keine Kurzgeschichten, lese keine Kurzgeschichten, und finde sogar dünne Romane oft unbefriedigend. Mein Aufruf daher: Schriftsteller dieser Welt, schreibt dickere Bücher!

Sammlung (Kurzgeschichten von einem Autor) oder Anthologie (Kurzgeschichten von verschiedenen Autoren)?

Nichts dergleichen.

Harry Potter oder Lemony Snicket?

Kenne weder noch.

Aufhören, wenn man müde ist oder wenn das Kapitel endet?


Eine missliche Sache, fast das Ärgerlichste am vorgegebenen Tagesablauf eines berufstätigen Menschen: Nicht weiterlesen können, wenn man doch weiterlesen will.

„Die Nacht war dunkel und stürmisch“ oder „Es war einmal“?


Weder noch, leider. Romane, in denen es dunkelt und stürmt, lassen nur das Schlechteste erwarten. Märchen mag ich auch nicht, glaube ich, möglicherweise mag ich aber auch nur keine Leute, die Märchen mögen. Diese Chai trinkenden, lebensbejahenden, optimistischen und oftmals blonden Geschöpfe, die in ihrer Jugend Wandergitarre gespielt haben und Tierschutz wichtig finden, sollte es meiner Meinung nach gar nicht geben.

Kaufen oder Leihen?

Natürlich kaufen. Ich gebe so ungern wieder her.

Neu oder gebraucht?

Gebraucht. Ich mag den Geruch und das weiche Papier alter Bücher.

Kaufentscheidung: Bestsellerliste, Rezension, Empfehlung oder Stöbern?

Schwer zu sagen. Meistens nicht gezielt, sondern in irgendwelchen Kisten auf dem Flohmarkt oder im Antiquariat gefunden.

Geschlossenes Ende oder Cliffhanger?

Was für eine idiotische Frage.

Morgens, mittags oder nachts lesen?

Nachts.

Einzelband oder Serie?

Einzelband.

Lieblingsserie?

Keine.

Lieblingsbuch, von dem noch nie jemand gehört hat?

Walter Hasenclever, "Irrtum und Leidenschaft". Kennt aus mir schleierhaften Gründen keine Sau. Aus lauter Verehrung wollte ich ja vor einiger Zeit hier einmal eine allgemeine Hasenclever-Renaissance einläuten, leider ist nichts draus geworden.

Lieblingsbuch, das du letztes Jahr gelesen hast?

Daniel Kehlmann, "Ich und Kaminski". Kehlmann schreibt so gut, dass man sich selbst in ein Buch verliebt, in dem ausschließlich unsympathische Menschen vorkommen. Da sitzt man dann und beschließt, nie wieder eine Zeile zu schreiben, weil der so gut schreiben kann, und man selbst nicht.

Welches Buch lesen Sie gegenwärtig?

Reinhold Schneider, "Der Balkon".

Absolutes Lieblingsbuch aller Zeiten?

Eins? Das ist Böse. Vielleicht Christian Kracht, "Faserland". Oder doch Oscar Wilde’s "Bildnis des Dorian Gray"? Oder Thomas Mann, denn ich immerzu lesen kann, von morgens bis abends und dann wieder von vorn? Augustinus, von dessen Bekenntnissen es nur vollkommen indiskutable Übersetzungen gibt, und den ich neu übersetzen werde, wenn ich einmal alt bin? Oder Hilde Spiel “Lisas Zimmer“, dessen Mängel einem förmlich ins Gesicht springen, aber das trotzdem etwas besitzt, das ich gerne hätte: Grazie und Anmut.

Weitergeworfen an den charming Herrn SvenK und Frau Arboretum.

Mittwoch, 9. August 2006

Schweigen

Wie die Götter vergehn
und die großen Caesaren,
von der Wange des Zeus
emporgefahren -
singe, wandert die Welt
schon im fremdesten Schwunge.
schmeckt uns das Charonsgeld
längst unter der Zunge.

Gottfried Benn

Im 3. nachchristlichen Jahrhundert verwirren sich die Fäden, die das Reich zusammenhalten, und es schweigen die Literaten, als gebe es nichts mehr zu erzählen. Doch ob nur kein Buch auf uns gekommen ist, ob gar nicht erst geschrieben wurde: Die wüsten Jahrzehnte vor Diokletian, die Jahre der Soldatenkaiser, sie stehen vor uns auf mit geschlossenen Lippen und leerer Miene. Kein Dichter spricht von dem Niedergang der civitas, dem Ruin der Freibauern und der Not der kleinen italischen Städte, durch die die Söldner ziehen, immer wieder, bis es keinen Unterschied mehr macht, ob Freund oder Feind die letzte Kuh davontreiben, die Schüsseln auf den Schwellen zerschlagen und mitnehmen, was sie nicht vor Ort verbrauchen, denn wüst sind die Zeiten, und die Schreiberschulen geschlossen wie die Schulen der Rhetoren.

Aber auch in jenen Tagen verliebt sich ein Hirte in ein Mädchen, das in einer Schenke die Teller spült. Eine Dame erwartet ein Kind von einem syrischen Sklaven und hängt sich in den Pflaumenbaum, als es aufkommt. Ein Soldat verspricht die Heimkehr, eine Frau wartet vergeblich, und fern, in den äußersten Reichsprovinzen, die nur lose noch, an ein paar letzten, zerschlissenen Fäden am Körper Roms hängen, zerfällt ein Leichnam, für dessen Rückkehr ein paar hunderte oder tausende Kilometer entfernt gebetet wird.

Ein Mann kauft sich ein Haus, die Bäume wachsen, ein Junge träumt von Ruhm, Glorie des Feldherrn, denn die Welt ist groß geworden für denjenigen, der nach den goldenen Äpfeln greift, die vormals nur denen gehörten, die unter ihren Zweigen geboren wurden. Aber die Zeit der Aristokratie ist vorbei, und was am Ende des 3. Jahrhunderts sich Adel nennen wird, in diesen Tagen wird er geboren, und fließt aus dem Blut der Toten auf allen Schlachtfeldern, auf denen Barbaren im Solde Roms gegen fremde Barbaren kämpfen. Noch ein paar Generationen, und halb Europa wird sich auf den Weg machen, irgendwohin, wo das Leben besser sein soll als daheim an den Ufern der Donau, des Rheins oder in den Steppen des Ostens.

Große Romane werden erlebt, die wir nicht kennen. Aufstieg und Niedergang, und vielleicht saß mancher alter Soldat zernarbt über mühsamen Aufzeichnungen, die die Zeit verschlungen hat. Vielleicht waren die Seiten voll von Trauer und blutiger Liebe, von all den Toten für das römische Reich, der übernationalen, überzeitlichen Idee eines Imperiums, aber nichts liegt in unseren Händen, und die Jahre wenden sich ab und schütteln den Kopf auf alle unsere Fragen.

Mag sein, es wurde nicht geschrieben. Mag sein, es hat nichts getaugt. Aber singen und erzählen muss der Mensch, und wenn nichts, kein Wort, kein Vers, keine Träne und kein scherzhaftes Wort auf uns gekommen ist, so mag es der Geist der Geschichte selber sein, der seine ungeratenen Kapitel schweigen heißt, wie auch unsere Jahre vielleicht schweigen, später, wenn dies alles vorbei ist, und nichts von uns und unseren Tagen bleibt als eine vage Erinnerung an etwas Wüstes, an die Auflösung einer alten Ordnung, an den Verfall einer ehrwürdigen Kultur zugunsten etwas Grellem, Lautem, an die vergeblichen, lächerlichen Versuche der Restauration, an die Trauer um etwas, dessen Verwesung wir nur zuschauen können. Die Erinnerung wird auch uns vielleicht einmal die Hand über den offenen Mund legen, damit auch wir kein Zeugnis ablegen von unseren verdorbenen, faulenden Tagen und dem Schmutz aller unserer Nächte. Ruhig wird es dann sein.

Und am Ende, wenn alles gut geht, spült das Meer von den Küsten, was von uns übrig bleibt, und aus den Wogen wird sich etwas Neues erheben, sauber und klar, weiß wie ein Sommermorgen, Stahl und blitzende Zähne. Ein menschenleerer Stier wird an Land gehen, und wir werden vergessen sein wie jene, und vielleicht ist das gut.

Montag, 5. Juni 2006

Die miesen Dichter der Bonner Republik

Peter Handke, und das sage ich jetzt einmal so als völlig Unberufene, ist ja sozusagen der Theodor Storm der Gegenwart. Da kratzen Sie sich jetzt ein wenig ratlos am Kopf und überlegen, wer das eigentlich... also nicht der Handke, denn kennen Sie, das ist ja der mit den Serben, aber Theodor Storm? Vielleicht erinnern Sie sich so halblaut und verschwommen an den Schimmelreiter, damals in Untertertia im Jahre des Herrn 1990. Gott, war das ein mieses Buch, ihr latschentragender Deutschlehrer versuchte damals, auf Biegen und Brechen einen Bezug zur Gegenwart herzustellen, der Mensch und die Natur, Sie wissen schon, der Respekt des Ersteren vor der Letzteren, und wenn nicht, dann... Genau.

Tatsache, um aus dem Jahr 1990 in die Gegenwart zurückzukehren, ist jedenfalls, dass Sie sich nicht mehr richtig erinnern können. Weg ist der Storm, und auch der Handke, obwohl der ja noch lebt, entschwindet zunehmend in jene Sphären, die man gern einmal museal nennt, um nicht einfach unerheblich sagen zu müssen. Passé. Vergessen. Und zwar zu recht.

Dass Storm wie Handke irgendwann in ihrem Leben einmal erheblichen Ärger mit der Staatsgewalt oder zumindest mit einer irgendwie gearteten Obrigkeit hatten, Storm wegen den Dänen, Handke wegen der Serben, das brauchen Sie sich eigentlich gar nicht mehr zu merken. Apropos merken: Erinnern Sie sich an ein einziges Werk von Handke? Und nicht nur an den hübschen Titel mit dem Tormann? - Tja, da schütteln Sie den Kopf. Ich dagegen nicke Ihnen anerkennend zu, denn genau darauf wollte ich hinaus, und diese ganze, natürlich mehr als nur ein wenig künstliche Gleichsetzung völlig verschiedener, aber gleich langweiliger Dichter, sie geschah ja nur aus dem einzigen Grund, Herrn Handke ein wenig zu nahe treten, beleidigungshalber sozusagen, aber wenn man schon einmal dabei ist, gut in Fahrt und Rückenwind dazu, holt man tief Luft und beleidigt eine Reihe ebenso sturzlangweiliger Schriftsteller gleich mit:

Günter Grass, sage ich, und ich werde recht behalten, wird in wenigen Jahren nicht mehr Bedeutung beigemessen werden als Wilhelm Raabe, der zu Lebzeiten auch mehr Ehrungen abgefangen, als Georg Büchner Bücher geschrieben hat. Und Martin Walser, dessen Werk der Ministerpräsident von Baden-Württemberg eigentlich verbieten lassen sollte, um den Ruf der deutschsprachigen Alemannen nicht weiter zu unterminieren. Günter Grass, der ganze Generationen deutscher Leser in ein höchst gebrochenes Verhältnis zu jener Sphäre getrieben hat, die man generell die Erotische nennt, mit seinem Faible für hässliche und zudem wenig überzeugende Extravaganzen und einer leicht ridikülen Kraftmeierei. Die ganze Gruppe 47, dieses Sedativum der deutschen Literatur, jene Herren, die die gesamte deutsche Gegenwart seit dem Kriegsende begleiten mit einem Strom aus Papier, auf dem unsympathische Protagonisten Frauenzimmer kennenlernen, die man nicht zu Gast haben möchte. Etwas Missmutiges wandert durch diese Seiten, etwas Missvergnügtes, Übelriechendes, sehr Protestantisches.

Eine hässliche Welt, ist das, in der die Eleganz der Jahrhundertwende, die schmerzliche Grandezza aller Untergänge der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, die Grazie Joseph Roths und die Kraft des jungen Brecht nicht einmal als Vision, nicht einmal als Horizont und Hoffnung eines hässlichen Scheiterns mehr vorhanden sind. Nicht einmal jenes erbarmungsvolle Mitleid bringt man auf für das Personal dieser Welt, die die hübsche Gans Emma Bovary oder das kunstseidene Mädchen doch reichlich erhalten, denn warum, denkt man sich, sollte man Anteil nehmen an Menschen, die man nicht mag, Menschen, die man von Herzen verachtet, und die einem nicht einmal leid tun in ihrer feisten Dummheit und Banalität, hinter der sich nichts weiter verbirgt als ein schlechtgelaunte Nörgeln an einer Welt, in der man nicht leben muss, wenn man nicht möchte.

So tot möchte man niemals sein, denkt man bei sich, und überlegt ein wenig, warum jene Herren immer noch, sozusagen überhaupt schon immer Zeit meines Leselebens, das Herzstück der deutschen Literatur darstellen als diejenigen Schriftsteller, deren neue Bücher Nationalereignisse darstellen. Autoren, die seitenlang in allen Publikationen die Republik hinauf und hinunter besprochen werden, wenn sie schon wieder eine neue Schwarte auf den Markt schleudern, fast so, als hätte der Allgewaltige ein sechstes Buch Mose vom Himmel geworfen. Warum Abiturienten Facharbeiten über ein Buch schreiben müssen, das so mies ist wie Ehen in Philipsburg oder wieso man besonders guten Deutschschülern am Schuljahresende Bücher von Günter Grass übereicht.

Weil die Republik alt ist, fällt einem dann ein. Uralt. Mit Krampfadern an den Beinen und künstlichen Zähnen. Weil die deutsche Gegenwart ein Kontinuum darstellt seit den Sechziger Jahren, ein Luftanhalten der Geschichte, die fetten Jahre mit schlechten Büchern dazu. Und erst, wenn das alles vorbei ist, und die Bonner Republik endgültig vergangen sein wird mit ihren politischen Aschermittwochen, ihren Arbeitnehmersparzulagen, Herrn Kaiser von der Hamburg-Mannheimer, der Stiftung Warentest und dem Kundenmagazin der Berliner Sparkasse - dann...

...dann wird mit dieser Welt eines muffigen, misslaunigen, uneleganten Stillstandes auch die Literatur dieer Jahre beiseitegelegt, und so, wie die bärtigen Dichter der Kaiserzeit vergessen sind, und keiner kennt mehr ihre Namen, so werden auch die Dichter dieses juste milieu einmal vergessen sein zugunsten derer, in deren Werk der Untergang dieser Welt aus Bausparkassen und Steinkühlerpausen, Vertriebenenverbänden und der IG Metall leise in böser, blutiger Eleganz seine Kreise zieht, und die Bausteine dieser Welt im Fallen bizarre Schatten an die Wand werfen, filigran und verschlungen wie das, auf das wir warten.

Samstag, 20. Mai 2006

Pour de nouvelles Aventures

Zum Grand Meaulnes von Henri Alain-Fournier

An manche Bücher mag man nicht mehr gehen, wie man auch vormals geliebte Männer manchmal nicht wiedersehen mag, um die Erinnerung an ein Gefühl nicht mit einem unreinen Tropfen zu verfärben. Aber mehr zehn Jahre nach der ersten Lektüre greift man doch noch einmal zum Grand Meaulnes, weil man ihn einmal so geliebt hat vor vielen Jahren, und hat nur ein wenig Angst, der schmale, 1913 erstmals erschienene Band, möge beim Wiederlesen ein wenig enttäuschen, wie es ja manchmal zu gehen pflegt, wenn man weiter gewachsen ist seit der ersten Lektüre, als die Grenzen eines Buches reichen.

Eine ländliche, fast märchenhaft unberührte Welt des ländlichen Frankreichs in der Neige des 19. Jahrhunderts zeichnet Henri Alain-Fournier: Die Schule, deren Schulmeister der Vater des Ich-Erzählers Seurel ist, der nicht ausziehen wird zu jenen Abenteuern des Augustin Meaulnes, diesem jugendlichen, späten Vetter des Taugenichts. Aber die Moderne, die Stadt, so fern sie zu rauschen scheint, hat doch ihre Kompliziertheit, ihre Skrupel und ihre Halbheiten in diesem abenteuerlichen Geist hinterlassen, der achtzehnjährig in der Schule auftaucht als neuer Schüler, die anderen Schüler fasziniert, sie um sich sammelt und sich anfreundet mit dem, der die Geschichte erzählt. An deren Ende wird es ein Paar geben in der Zurückgezogenheit eines Kindheitshauses, nur ein einziges Paar also findet sich, auf dessen Glück wir hoffen, aber Augustin wird ebenso wenig sein Glück finden wie der Ich-Erzähler, und so ersteht ein schmerzliches, zartes Arkadien in der Sonne dieses Romans.

Lauter Träumen laufen die Protagonisten hinterher, deren wehenden, schnell verwehten Abglanz sie gesehen zu haben meinen. Ein Fest in einem falschen Sommer, in das Augustin Meaulnes gerät aus Zufall und Verirrung wie wohl ein reiner Tor ein Schloss finden mag, und es nicht wiederzufinden vermag aus eigenen Kräften. Eine Hochzeit soll gefeiert werden, und pittoresk, romantisch verkleidet wie diese ganze, leise, in ihrer Lebenslust doch dezente Geschichte, warten die Gäste auf das Brautpaar, doch die Braut, wiewohl liebend und geliebt, ist auf und davon. Der Bräutigam, Franz de Galais, wird sich eine Kugel in den Kopf schießen und, überlebend, Jahre umherirren auf der Suche nach der verlorenen Braut. Eine weitere geliebte Frau verschwindet, kaum hat Meaulnes sie gesehen. In die Schwester des Bräutigams, Yvonne de Galais, verliebt er sich, ohne sie zu kennen, und sie zu finden treibt ihn wieder und wieder auf die Suche nach dem Schloss, als er längst zurück ist in der Schule und es nicht wiederzufinden vermag. Der Traum von einem Paradies, als das das Schloss Eingang findet in die Phantasie nicht nur des Meaulnes, der einen Abend und eine Nacht im Schloss verbracht, der Traum von einer stillen, innigen Liebe, von einer Ruhe zwischen Feldern, Wasser und einem befriedeten, schweigenden Himmel, die dem Meaulnes nicht vergönnt sein wird, denn die Suche nach dem Abenteuer, die ihn, noch halb unbewusst, als Schüler erstmals hinaustreibt, wird ihn auch am Ende nicht loslassen. Wie Franz wird wohl auch er über die Straßen Deutschlands treiben, auf der Suche nach einer Ganzheit, die untergegangen war schon in den Jahren, in denen Fournier ihn erfand.

Die Gärung und die Nervosität der Jahrhundertwende, die an unerfüllbaren Sehnsüchten entzündeten Nerven einer späten und allzu filigranen Welt mögen es sein, die den Kosmos des Meaulnes unterscheidet von der Welt der deutschen Romantik. War dem Taugenichts aber noch das Glück etwas Erreichbares, wenn die geliebte Frau die dem Handwerksburschen erreichbare Kammerzofe war statt der Gräfin, und das Sehnsuchtsland Italien ein Ort, an dem man fahren konnte, so ist das Schloss des Meaulnes aber nicht mehr ein bloßes Gebäude irgendwo am Land, wohin man sich einfach wenden könnte, denn nur für einen Abend, einen vergeblichen Anlass, hat ein flüchtiger Moment, eine dekorative, pittoreske Laune, Stein und Mörtel vergoldet, und mit dem Abend verschwindet das Paradies, das die Protagonisten doch nicht aufhören können zu suchen.

Auf der Suche wird eine Freundschaft zerbrechen. Die Ehe der Yvonne de Galais mit Augustin Meaulnes wird nur einen einzigen Tag dauern, an dem Yvonne sterben wird. Der Ich-Erzähler verrät den Meaulnes, dieser wird den Franz de Galais verraten, der verstoßen durch sein eigenes Unglück in unwürdiger Gesellschaft krank und verstört über Land zieht, und ob das unsichere Glück, das schließlich ein erreichbares Glück zerstören wird, den Tod und die Flucht und die Heimatlosigkeit wert gewesen sein wird - wir wissen es nicht, und Fournier lässt es uns nicht wissen.

Keine Idylle ist es also am Ende, was Fournier als einzigen vollendeten Roman hinterlassen hat, und doch scheint durch den Spalt in der Schlosstür, am Ende der Straßen, auf denen Meaulnes Franz de Galais suchen wird, und selbst in der Kläglichkeit der stehlenden Komödianten, der oft stumpfen und brutalen anderen Schüler, der Enge der Provinz, die Möglichkeit eines Glücks auf, das zu suchen wir nicht mehr kraftvoll genug sind, und dessen Zerbrechlichkeit und schneller Verfall, so leidvoll wenig mehr als eine Augentäuschung, es uns doch greifbarer erscheinen lässt als die Welt der rotbackigen Romantik, für deren Abenteuer uns der Glaube fehlt an die goldenen Töpfe am Ende des Regenbogens.

Und so sitzt man denn zwischen Feldern und Bäumen über Hügelketten, so weit das Auge reicht, irgendwo im Nichts im Bergischen Land in einem Wagen vier Stunden lang im Stau, und liest sich wieder zehn Jahre zurück in eine blühende, fließende, schimmernde Vergangenheit, und möchte wieder mit Meaulnes auf Abenteuer ziehen, bei denen es um Liebe geht, um sommerliches Glück, Erlösung und all diese Dinge, von denen wir wissen, das es sie meistens nicht gibt.



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15. Jul. 2021, 2:03 Uhr

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