Liebe Freunde

Mittwoch, 28. September 2011

Der B., die D. und das Vergessen

"Hey!", begrüßt mich der B. auf dem Markt vorm Stand vom Metzger und schiebt mit der linken Hand seinen kleinen Sohn an einer Frau mit Zwillingswagen vorbei. Es gehe ihm gut, entnehme ich dem kurzen Gespräch in der Schlange, er habe die Kanzlei gewechselt, seine Freundin geheiratet, mit der er das Kind hat, und ganz um die Ecke eine Wohnung gekauft. - "Schöne Grüße an die D., wenn ihr euch noch seht!", lässt er noch ausrichten, als die Verkäuferin mich zum zweiten Mal aufruft, zu bestellen. "Richt' ich aus!", wende ich mich noch einmal kurz nach hinten und ordere dann frische Weißwürste, ein Stück Leberwurst und werfe einen begehrlichen Blick auf die Lammrippchen. Dann gehe ich heim.

"Ach - der!", gluckst die D. am Montag drauf, als ich die Grüße ausrichte. Der, meint sie. Der mit den Halluzinationen. Die D. lacht und auch am Telephon höre ich die D. fröhlich den Kopf schütteln. Dann fällt auch mir alles wieder ein: Der B. und die D. und der nie geklärte Pfingstmontag.

Eines Tages nämlich - das ist schon ziemlich lange her - saßen die D. und ich vor dem 103 in der Kastantienallee. Da gehen wir schon lange nicht mehr hin, aber damals waren wir andauernd da, frühstückten, tranken frischen Pfefferminztee und den schlechtesten Wein der Stadt, und meistens trafen wir irgendwen, weil alle dahingingen. An diesem Tag, es war ein Pfingstmontag, trafen wir irgendwann spät auch den B. Der B. war ein Bekannter von mir, der D. aber sichtbar auf Anhieb sympathisch.

Was wir alles getrunken haben, habe ich vergessen. Irgendwann schloss das 103 und der große, schlanke Kellner, der, glaube ich, Klaus heißt, klapperte so ausdauernd mit Gegenständen, dass wir gingen. Irgendwann waren wir dann in Mitte. Und in Friedrichshain. Und noch später wieder in der Metzer Straße in der Wohnung vom B.

Die Wohnung vom B. war damals eine Art antibürgerliche Installation. Es war wirklich schmutzig, aber es gab noch Bier und Wodka, und als ich ging, war sogar immer noch etwas da. Mit mir brach der K. auf, den hatten wir irgendwo in Mitte aufgelesen, und erzählte mir am Rande des Bauspielplatzes in der Kollwitzstraße eine lange, ziemlich unwahrscheinliche Geschichte. Während dessen wurde es unfassbar hell.

Ein paar Tage später traf ich die D. wieder irgendwo. Es sei nicht mehr viel passiert in dieser Nacht, meinte sie eher beiläufig. Sie sei irgendwann beim B. auf dem Sofa eingeschlafen und am nächsten Morgen hätte sie mit dem B. im MS Völkerfreundschaft gefrühstückt. "Netter Kerl so an sich.", meinte sie, und dann sprach sie nicht mehr vom B.

Der B. dafür sprach um so mehr von der D. Anders als jene meinte der B. nämlich sich durchaus an bemerkenswerte Vorfälle zu erinnern, auch sei das Frühstück (hier stimmten wenigstens wieder die gemeinschaftlichen Rahmendaten) durchaus romantisch verlaufen, und so fühlte sich der B. wohl durchaus zumindest subjektiv zu recht enttäuscht, dass die D. keinerlei Anstalten machte, sich erneut zu verabreden oder sich zumindest an ihn zu erinnern. Auf ein oder zwei SMS kam wohl keine Antwort.

Die D. dagegen schwor Stein und Bein, da sei nichts gewesen. Die D. gehört auch nicht zu den Leuten, die solcherlei Intermezzi absichtsvoll verschweigen. Man darf der D. daher abnehmen, dass sie sich zu Erinnerungen bekennen würde, besäße sie jene, und auch, dass sie derlei Ereignisse an sich nicht einfach vergisst. So viel, dass das Vergessen pharmakologisch bedingt eingetreten sein könne, habe sie zudem bei weitem nicht getrunken, behauptet die D. bis heute und so schwebt ein Mysterium über diesem Pfingstmontag, ein dunkler Fleck in der Privatgeschichte der D.und des B., unaufklärbar wie alle wahren historischen Rätsel.

Donnerstag, 8. April 2010

Mutter

"Oha.", sage ich, verkneife mir ein herzhaftes "Bist du wahnsinnig" und wechsele einen besorgten Blick mit dem C. Die L. lacht. Sie persönlich werde ja gern photographiert, wirft sie in die Runde im Toca Rouge, allerdings kämen auch ihr die Umstände ein wenig sonderbar vor.

In der Tat:

Die L., Rechtsreferendarin und Gelegenheitsfreundin des mir befreundeten C., begab sich also vor zwei Wochen in Begleitung einer Freundin zu einem bekannten Club in Friedrichshain, und stand dort, wie es dort halt so Sitte ist, eine Stunde lang in der Schlange vor der Tür. Es war saukalt, die L. fror in einer Kombination aus einem nachthemdartigen blauen Gewand, sehr, sehr engen Jeans, einer viel zu kurzen Lederjacke und diesen Stiefeln, die aussehen wie die Fußbekleidung auf Mittelaltermärkten.

Nach circa 45 Minuten hatte die Freundin der L. genug gewartet und ging einfach weg. Die L. fror allein weiter. Irgendwo im Inneren des Gebäudes befanden sich weitere Freunde der L., die galt es zu finden, aber zunächst stand sich die L. vor der Tür die Beine in den Bauch.

Als ihr ein Fremder etwas zu trinken anbot, griff sie sofort zu. Ihre Hände seien schon ganz steif gewesen, berichtet die L., und der fremde Samariter habe ihr seine Handschuhe ausgeborgt. Schnell freundete man sich an. Der Fremde, so erfuhr die L., war Photograph, 38 oder so, gebürtig aus Aachen, aber ansässig in Kreuzberg seit fast zwanzig Jahren, und arbeite für verschiedene Presseorgane und ansonsten photographiere er halt so herum. Ein- oder zweimal habe er in kleinen Galerien ausgestellt.

Die L. fand das alles hochspannend. Die L. stammt selbst aus einem Kaff in Hessen, dessen Namen wir uns alle nicht merken können, hat dann in Marburg studiert und ist seit knapp sechs Monaten - für immer, wie sie beteuert - in Berlin. Entsprechend bewunderte sie den Photographen bestimmt zehn bis zwanzig Meter lang in Richtung Haupteingang, und das dauert ziemlich lange.

Kurz vor dem Eingang bot der Photograph an, die L. zu photographieren. Er habe da so ein Projekt. "Wenn es nichts Nacktes ist ....", stimmte die L. etwas vorsichtig zu, und der Fremde beruhigte sie. Es gehe um voll bekleidete Bilder. Die L. gab ihre Telephonnummer heraus. Dann trennten sich die Wege: Die L. ging tanzen, der Photograph fuhr, von der Tür verschmäht, heim.

Schon am nächsten Tag rief der Photograph an. Noch am selben Abend traf die L. ihn in einem Café und ließ sich erläutern, worum es ging. Sie sollte in Abendkleidern photographiert werden, teilte der Photograph ihr mit, und zwar in den Abendkleidern seiner Mutter. Dieser - und der Photograph zückte ein paar Bilder seiner Mutter in jungen Jahren - sehe die L. im Übrigen außergewöhnlich ähnlich.

"Kleiner Mutterkomplex.", kommentierte der C. dieses Projekt einige Tage später eher sparsam, wie es dem betont nicht-beziehungsähnlichen Verhältnis zwischen dem C. und der L. entspricht. Sorgfältig ist der C. darauf bedacht, weder Verhaltensweisen, die nach Eifersucht aussehen könnten, noch übertriebene Fürsorge an den Tag zu legen, und so behielt er seine Meinung auch dann noch für sich, als sich herausstellte, dass es nicht um die Kleider einer lebenden, sondern einer vor einigen Jahren verstorbenen Mutter geht. Als aber die L. ankündigte, diese Bilder würden nicht in Kreuzberg, sondern in Aachen im inzwischen unbewohnten Einfamilienhaus der toten Mutter gefertigt, wohin sich der Photograph mit der L. zu diesem Zweck für mehrere Tage begeben werde, bat der C. dann doch einige vorwiegend weibliche gute Freunde, der L. den eindrücklichen Rat zu geben, hiervon auf jeden Fall Abstand zu nehmen, selbst wenn, wie der L. versichert wurde, diese im Bett seiner Mutter schlafen dürfe, während der Photograph im Kinderzimmer übernachte wie immer.

Samstag, 23. Januar 2010

Der Zsa-Zsa-Gabor-Komplex

Tatsächlich hat das Alter keinerlei Vorteile: Wenn man 20 ist, kann man nächtelang feiern und sieht am nächsten Morgen aus wie neu geboren, aber versuchen Sie das mal zehn Jahre später. Was eine wirklich junge Frau verbricht, fällt fast samt und sonders unter gütig belächelte Jugendsünden, wohingegen Damen mittleren Alters für ihre Faux Pas auf keinerlei Nachsicht hoffen können. Dass die männliche Nachfrage, um auch dieses schwierige Kapitel anzusprechen, sich in erster Linie auf junge Damen richtet, bedarf wohl keiner weiteren Worte, und so nimmt es nicht wunder, dass die Welt um manche ältere Dame weiß, welche ihr Geburtsjahr mindestens verheimlicht, wenn nicht sogar verfälscht.

Doch auch das männliche Alter ist kein gemütlicher Zustand, und so ist auch nicht jede männliche Altersangabe zutreffend, und daher antwortete ein 2005 an und für sich noch recht junger Mann von ca. 32 auf die Frage anderer Rechtsreferendare im Bundestag (tatsächlich handelte es sich um zwei Damen), wie alt er denn sei, mit einem kräftigen "28". Die beiden Fragenden selbst bekannten sich zu ihren damals 24 oder 25, und so war alles gut. Einträchtig, ja freundschaftlich sogar, arbeitete man im Jakob-Kaiser-Haus vor sich hin. Dann aber hatte der junge Mann - wir wollen ihnen der Einfachheit halber J. nennen - Geburtstag.

Zu seinem Geburtstag lud der junge Mann die beiden Kolleginnen ein. Außer den Kolleginnen waren auch die Freunde eingeladen, die der junge Mann sowieso schon hatte, und so saßen im Februar 2006 (draußen war es ziemlich kalt) ungefähr 15 Personen in seiner Wohnung am Helmholtzplatz herum. Es gab Bier, Bouletten und Salate, leise Musik, die den guten Geschmack des jungen Mannes bezeugte, und weil es zu wenig Sitzgelegenheiten gab, hockten die meisten Gäste auf dem Boden.

Zu den Freunden, die den jungen Mann schon mehrere Jahre umgaben, gehörte unter anderem auch die C., die - wie die meisten anderen Anwesenden auch - ebenfalls Juristin ist, ebenfalls Jahrgang 1973 und ebenfalls keine gebürtige Berlinerin. Die C. stammt, wie es sich für eine Prenzlbergerin gehört, aus des Landes Südwesten, und dort hat sie irgendwann in den Neunzigern auch studiert. Nach dem Studium aber hat die C. mehrere Jahre an einem Lehrstuhl als eine wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet und promoviert und während dieser Zeit auch Arbeitsgemeinschaften gegeben, im Staatsrecht nämlich, und zwar gegenüber den damaligen Studenten der Anfangssemester.

Unter diesen Studenten war auch eine der Mitreferendarinnen des J., und ob diese nun den Altersunterschied zwischen der sofort wiedererkannten C. und sich selbst sogar richtig einschätzte oder möglicherweise die Rollendistanz zwischen Lehrenden und Unterrichteten mehr als die vier Jahre suggerierte, die beide tatsächlich trennte: Als die C. in irgendeinem Zusammenhang bekanntgab, sie sei ja nur drei Monate jünger als der J., sah die Mitreferendarin erstaunt auf, sah erst nach rechts zur C., dann nach links zum J., und dann saß sie da, runzelte die (übrigens hübsche) Stirn und dachte nach. Weil die Mitreferendarin nicht die Hellste ist, wie man so sagt, dauerte dieser Prozess ein paar Minuten. Dann fragte sie den J. ganz direkt nach seinem Alter.

Der J. sah ein wenig unbehaglich um sich. Nun ist es nicht schön, bei einer kleinen Korrektur des Alters erwischt zu werden, das sicher, aber auf der anderen Seite ist es auch nicht lustig, von guten, alten und insbesondere gleich alten Freundinnen ausgelacht zu werden, und das voraussichtlich über einen Zeitraum von mehreren Jahren mindestens alle paar Tage. Der J. atmete also dreimal tief durch, trank einen großen Schluck Bier und sagte die Wahrheit. Im Anschluss schwiegen alle Anwesenden kurz und betreten und feierten dann um so entschlossener weiter.

Ein paar Tage später trafen der J. und die C. wieder aufeinander. Die C. hatte die Geschichte in der Zwischenzeit laut lachend einer unwesentlichen Anzahl von Personen weitererzählt, der J. hatte die ganze Geschichte nach einer kurzen Scham- und Erholungsphase ebenfalls schon kolportiert, und so fiel der Teil des Gesprächs, der im Wesentlichen aus Vorwürfen bestanden hätte, relativ kurz aus: Der J. sagte irgendetwas wie "wie kannst du nur", die C. sagte "wenn mich keiner vorwarnt", und dann traf man ein Arrangement: Künftig würde die Bezifferung des Geburtstages im Vorfeld abgestimmt. Das Erstvorschlagsrecht hat jeweils an seinem Geburtstag der J.

Nach dem J. richten sich dann die C., die I., der M. und sein Bruder T., denn alle drei gehören demselben Jahrgang an. Die M. und der S. sind ein Jahr jünger und ziehen dieses Jahr folglich ab. Ich folge mit einem zweijährigem Abstand, weitere drei Jahre jünger ist die F.

Nun fühlt sich der J. nicht jedes Jahr ein Jahr älter. Manchmal altert der J. jahrelang nicht, dann gibt es auf einmal Sprünge, und so ist das Lebensalter der Menschen, die den J. umgeben, eine etwas erratische Angelegenheit, bisweilen selbst für die Beteiligten schwer nachzuvollziehen, ab und zu schert auch einer aus, dem die aktuelle Bezifferung aus persönlichen Gründen gerade nicht entspricht, und dann tut man gut daran, sich das alles zu merken.

Gegenwärtig bin ich, glaube ich, 31, aber das kann sich jederzeit ändern.

Freitag, 1. Januar 2010

Schwiegerfreunde

Man lernt sich kennen, man geht ein paarmal miteinander aus, und irgendwann ist man dann zusammen. Die ersten zwei Wochen geht man kaum vor die Tür. Eines Tages aber klingelt bei der Geliebten das Telephon, und man hört irgendwas mit wie "Dachte, du lebst nicht mehr" oder "Ist er jetzt da?". Dann wird ziemlich lange über Leute geratscht, die man nicht kennt (vielleicht hat man von dem einen oder anderen schon mal gehört, aber das hat man nicht behalten). Es folgt eine Verabredung. Ein Sonntagsfrühstück beim Pappa e Ciccia vielleicht oder ein Glas Wein im Liebling.

Kurz vor der Verabredung ist man verblüfft, wie nervös die Geliebte auf einmal wird. Man selbst hat die Ruhe weg. Schließlich trifft man weder die Mutter noch den Chef der neuen Freundin, es geht nur um ihre Freunde. Welchen Grund sollen diese Menschen schon haben, einen nicht zu mögen. Hand in Hand läuft man also los.

Im Lokal angekommen, gibt es dann zwei Möglichkeiten: Entweder ignorieren die Freunde einen komplett und unterhalten sich ausschließlich über Angelegenheiten, die einen nicht interessieren, und Leute, von denen man gerade das erste Mal hört. Schweigend sitzt man da und sieht seine neue Freundin von der Seite an. So kennt man sie gar nicht. Und offenbar gibt es Leute, die sie viel, viel besser und länger kennen als man selbst. "Damals in Mentone ...", schnappt man auf und "... aber mit deiner Mutter ist es ja nicht anders." Da sitzt man dann und fühlt sich irgendwie fremd und ausgeschlossen.

Die andere Möglichkeit ist unangenehmer: Man wird nach Herz und Nieren ausgefragt. Dabei fällt einem auf, wie viel diese Leute schon über einen wissen. Offenbar haben umfangreiche Gespräche in der Anbahnungsphase stattgefunden, gut, man selbst hat ja auch - aber doch nicht so umfassend. Was sie wohl sonst noch alles ..., sieht man seine Freundin von der Seite an, die auf einmal viel mehr zu diesen Menschen, und viel weniger zu einem selbst zu gehören scheint.

Zu Hause ist dann alles wieder okay. Die Freundin relativiert hier ein bißchen und erklärt da. Man erfährt, wieso eine arglose Antwort auf eine Frage zu einem überraschenden Stirnrunzeln geführt hat, und wieso man es bei einem der Leute am Tisch ein bißchen schwer hat. Gut, man würde den Nachfolger eines guten Freundes vielleicht auch nicht mit offenen Armen wllkommen heißen. Insgesamt aber mag man die Leute, schon weil sie mit der großartigsten Frau des Universums befreundet sind. Es bliebe einem ja auch gar nichts anderes über.

Nach einigen Wochen stellt man fest, dass die Freunde schon sehr (um nicht ganz direkt zu sagen: unangenehm) omnipräsent sind. Sie klingeln, ohne vorher anzurufen, und die Freundin macht in Unterwäsche auf. Sie gehen einfach so an ihren Kühlschrank, wenn sie Hunger haben. Sie schreiben sich täglich ungezählte E-Mails über alles Mögliche. Sie sehen sich jederzeit und ständig zu sechst, zu acht, zu zehnt, es scheint gar kein Ende zu nehmen, und verbringen ganze Sonntage miteinander.

Eigentlich, fällt einem auf, sind die Freunde ganz schön arrogant. Beispielsweise besteht ein ganzer Freundeskreis aus Juristen, nur aus Juristen (kennen die den keine anderen Leute als immer nur Juristen) und diese Juristen fühlen sich Gott und aller Welt überlegen. Meistens merkt man das nicht so, aber ab und zu sagt einer etwas über Fächer, die man auch studieren kann, und dann wird rund um den Tisch ein bißchen gelacht, als sei ein Studium der angewandten Kulturwissenschaften, des Maschinenbaus oder der Betriebswirtschaft irgendwie witzig. Oder die Freunde verbindet die Musik, und dann schauen immer alle betont unbeteiligt an einem vorbei, wenn man auch mal was über Musik sagt. Oder alle sind ziemlich reich und gehen ständig irgendwohin, wo man beim Lesen der Speisekarte die ganze Zeit schwitzt.

Wenn man klug ist, sagt man dazu nichts. Die Freunde waren vor einem da. Sie werden allem menschlichen Ermessens auch noch in fünf Jahren ständig auftauchen, und so tut man gut daran, sich so gut es geht zu integrieren. Ansonsten wird es schwierig. Nehmen wir nur einmal den Urlaub: Den ersten Urlaub wird die Geliebte im Hormonrausch vielleicht noch zu zweit verleben wollen. Igendwann aber fängt alles an zu planen, ein Wochenende Rom, eine Woche nach Schottland, und dann steht man da. Nicht mitkommen kommt irgendwie nicht in Betracht, wenn alle anderen als Paar fahren. Mitkommen und die ganze Zeit den komischen Freund von X geben, ist aber auch keine Alternative.

Manche Menschen gehen in die Offensive und laden nach einigen Monaten die Freunde der Freundin zu einer eigenen Party ein. Da stehen sie dann, sehen sich gründlich die Wohnung an, zeigen sich verstohlen die Bücher im Bücherregal, und reden den ganzen Abend mit niemandem, den sie nicht schon kennen. Oder höchstens nur mal so zehn Minuten und aus Höflichkeit.

In der ersten Krise werden die Freunde der Freundin so ein wenig zum Alptraum. Man sitzt dann so zu Hause, fühlt sich elend, und stellt sich vor, wie alle um die Freundin herumsitzen und Dinge sagen wie "natürlich schon was anderes" oder "ganz ein netter Kerl, aber am Ende". Selbst wenn alles wieder gut ist, betrachtet man die Freunde von nun an mit noch mehr Reserve. Wieso zum Beispiel mailen sie sich ständig alle an, aber man selbst erhält die Mails immer nur über die Freundin? Und warum fragt einen eigentlich keiner, wo man war, wenn man mal ein paar Wochen nicht auftaucht?

Nach ein paar Monaten geht auch diese Phase vorbei. Vielleicht geht man mit dem einen inzwischen ab und zu zum Tennis. Das hat sich so ergeben, und ist eigentlich immer sehr nett. Danach isst man noch was zusammen, meistens einen Burger unter Männern im Bird oder im White Trash, und irgendwann wird der Tennisfreund dann auch ohne Tennis mal getroffen. An einer umfassenden Burgertestreihe der Burgerbräter von Berlin kommen dann auch noch zwei andere Freunde der Freundin ab und zu mit. So langsam kennt man die Zusammenhänge und neuralgischen Punkte, und wenn alle lachen, dann weiß man zumindest wieso. Inzwischen bekommt man auch alle E-Mails.

Irgendwann trennt sich dann eine Freundin der Freundin von ihrem Freund. Es wird fürchterlich viel diskutiert, es müssen sehr schwere Möbel geschleppt werden, und dann begibt sich die nun Alleinstehende auf eine pannen- und verwicklungsreiche Suche nach einem neuen Mann. Man bekommt das so halb und halb mit und schüttelt bisweilen den Kopf. Die Arme, bemitleidet man ein bißchen. Leider bestimmt nicht leicht vermittelbar. Ein bißchen üppig ist sie ja schon. Und überhaupt - diese arroganten Juristen.

Irgendwann scheint es dann doch hingehauen zu haben. Die Freundin der Freundin verschwindet über Wochen. "Der Neue belegt Y ja völlig mit Beschlag.", sagen die Freunde, und man ärgert sich auch ein bißchen. Ist ja schön für sie, aber man ist doch ungern so ganz abgemeldet, nur wenn es da jetzt wieder jemanden gibt. Schließlich ist der Typ ganz neu, und man selbst und die anderen Freunde waren quasi immer schon da.

Eines Tages erhält man dann eine E-Mail. Es wird gefrühstückt im Fleury oder es gibt ein Glas Wein im Rutz. Y wird kommen und bringt ihren neuen Freund mit. Man ist sehr gespannt auf den Neuzugang. Ein Mathematiker, hat man gehört. Einzelkind. Davon hält man eigentlich nichts. Man will seine Zeit ja nun auch nicht mit jedem verbringen.

Mittwoch, 2. Dezember 2009

35 (01.12.2009)

Die M. wird 35. Es gibt Pizza und Sekt, und das überraschte Geburtstagskind sitzt inmitten der Freunde, die ihr Freund am Vortag per Mail zusammengerufen hat.

Gut sieht sie aus, finde ich, gut auch die anderen Freunde, die teils aus dem Büro gekommen sind und teils von zu Hause. Wir haben uns nicht sehr verändert in den letzten sieben, acht Jahren, glaube ich und schaue in die Gesichter rund um den Tisch.

"Was hast du vor im nächsten Jahr?", frage ich irgendwann und schenke mir ab und zu Sekt nach und esse Torte. "Nichts.", sagt die M. und fügt hinzu, dass es kaum mehr etwas gebe, was sie hoffe und erwarte, und ich bin ein wenig erschrocken.

Aber vielleicht hat sie recht: Zwischen zwanzig und dreißig passiert unglaublich viel, wenn das, was man machen wird und wie man lebt, sich langsam und mühevoll herauskristallisiert. Noch viel mehr verändert in den zehn Jahren davor, wenn man aus einem weichen, noch fast ungeformten Kind man selber wird, mit dem man leben muss den Rest seiner Jahre. Ab 30 ist dann vielleicht nicht mehr arg viel los.

Vielleicht läuft alles reibungslos weiter. Ein wenig Karriere wird man jetzt noch machen. Vielleicht bekommt die eine oder andere ein Kind. Aber jemand anders wird keiner von uns mehr werden, es sei denn, es läuft etwas schief. Nur noch Variationen wird es geben der Möglichkeiten seiner selbst, und Überraschungen, Überraschungen bieten die Jahre, die kommen, wohl nicht mehr arg viele, und was bleibt ist Verfall am Ende und ein wenig Langeweile zuvor.

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Das Geschenk

"Zum Beispiel einen Frühstücksgutschein!", sage ich und überlege, ob die einschlägigen Hotels mit bekannt guten Brunches wohl Gutscheine verschicken. Zum Abholen komme ich jedenfalls vermutlich nicht mehr. Außerdem müsste ich dann raus und würde erfrieren.

"Gutscheine sind blöd.", kommentiert die A. und spricht über lauter tolle Hochzeitsgeschenke, die ich am Donnerstag wohl kaum mehr bekommen werde, wenn die Hochzeit Samstag stattfindet. Nein, ich verschenke im Oktober keinen Picknickkorb. Nein, ich kaufe auch keinen Sektkühler, wenn ich weder ihn noch sie jemals Sekt habe trinken sehen.

Wenn ich einen Gutschein verschenke, dann muss ich zumindest etwas Originelles beifügen, höre ich. Sie zum Beispiel - im Hintergrund rasselt es - habe vom O. einen Gutschein für einen Day Spa bekommen, und auf dem dazugehörigen selbstgedrehten Video habe sich der O. mitsamt zwei hübscher Freunde ganz und gar ausgezogen und dazu getanzt. Ich schaudere. Ich sehe schon angezogen komisch aus. - Ohne etwas Originelles dazu, sagt die A., sei ein Gutschein aber ganz und gar nicht zu vertreten. Ich verwerfe also den Gedanken.

Nun folgen Vorschläge Schlag auf Schlag.

Ein Badethermometer.
Das Paar hat keine Wanne.
Ein Austernmesser.
Er isst schon keinen Fisch.
Ein Riesenkorkenzieher.
Haben die beiden, glaube ich.
Eine Jahreskarte für den Zoo.
Er ist so gut wie nie zu Hause.

Dann wisse sie auch nicht weiter, seufzt die A. "Was kaufst du, wenn dir nichts einfällt?", frage ich. Es wird still in der Leitung.

"Einen Trüffel.", antwortet die A. irgendwann. Größe je nach Bedarf. Ich bin ratlos.

Montag, 3. August 2009

Hauptrolle

Sie habe sich das, sagt ihre Mutter, ausgedacht, erzählt sie und schüttelt den Kopf. Dabei sei alles wahr. Die Schulaufführung immerhin streitet ihre Mutter nicht ab. Es sei ein Stück gewesen, dass eine Lehrerin geschrieben habe. Es habe in der großen Stadt im Rheinland gespielt, in der sie aufgewachsen ist, und es habe so viele Rollen gegeben, wie Kinder in der Theater-AG gewesen seien, also zehn oder zwölf. Von diesen Kindern sei sie eins der jüngeren Mädchen gewesen und ein bißchen mollig. Es gebe wenig Photos aus diesen Jahren. In Berlin habe sie nur eins. Blond sei sie damals gewesen, pausbackig und nur so mittelhübsch. Sie sei ziemlich groß gewesen für ihr Alter, etwas unglücklich darüber und stets ein wenig eckig und unbeholfen, wie das so ist, wenn man 13 ist und sich nicht recht wohl fühlt in der noch neuen Haut eines Halberwachsenen.

An ihrer Mutter lag das nicht. Ihre Mutter habe sie stets hübsch angezogen und immer gern für sie eingekauft. Manchmal habe ihre Mutter sie geschminkt, frisiert, geföhnt und ihr immer eingeschärft, sich nicht gehen zu lassen. Ihre Mutter sei selbst keine schöne Frau, aber sehr gepflegt. Bisweilen habe sie ihre Mutter gefürchtet, damals, wegen ihrer Ausbrüche und ihren Migränen, in denen sie ihren Bruder, mehr noch aber sie selbst, attackiert habe, beschimpft und einmal sogar geschlagen. Auch das, sagt ihre Mutter heute, sei aber gar nicht wahr.

Als sie nach Hause kam und von dem Theaterstück erzählte, habe ihre Mutter sofort nach der Hauptrolle gefragt. Es gebe zwei Hauptrollen für Mädchen, erzählte sie ihrer Mutter. Sie müsse eine der Hauptrollen spielen, beschloss die Mutter und machte sich Gedanken über das Kostüm. Nebenrollen kämen für ihre Tochter nicht in Frage, beschloss die Mutter und dachte darüber nach, was sie der Leiterin sagen solle, damit sie ihr die Hauptrolle gab. Es hänge nur von ihr ab, schärfte ihr die Mutter ein.

Zur nächsten Theater-AG ging sie mit Bauchschmerzen. Dass sie eine der Hauptrollen erhalten würde, war unwahrscheinlich. Es gab in der AG sehr begabte Mädchen, die auch noch hübsch waren, und dass diese Mädchen eher als sie die Rolle erhalten würden, lag auf der Hand. Tatsächlich sollte sie eine Kioskverkäuferin spielen. Ihr Magen zog sich zusammen und sie musste weinen, als sie das hörte. Die Lehrerin tröstete sie, aber umstimmen ließ sie sich nicht.

Als ihre Mutter fragte, sagte sie die Wahrheit. Ihre Mutter wurde böse. Was genau ihre Mutter damals gesagt hat, habe sie nicht behalten, nur den Tonfall wisse sie noch. So ein böses Zischen. Sie solle noch einmal mit ihrer Lehrerin sprechen, befahl die Mutter und etwas bestimmter auftreten. Sie sei zu schüchtern und lasse sich dominieren. Gleich morgen früh müsse sie mit der Lehrerin sprechen. Als sie am nächsten Tag nach Hause kam, fragte ihre Mutter noch in der Tür nach. Sie aber habe an diesem Tag nicht mehr streiten gewollt und nicht, dass ihre Mutter wieder schimpfte. Sie habe Angst gehabt, den ganzen Tag Beklemmungen wegen der Hauptrolle, und deswegen habe sie einfach ja gesagt: Ja, sie habe die Rolle. Ihre Mutter habe darauf zufrieden gewirkt und von ihr abgelassen. In den nächsten Wochen habe ihre Mutter die Hauptrolle abgefragt. Sie habe die ganze Hauptrolle auswendig gewusst, und natürlich die Kioskverkäuferin, die sie tatsächlich spielen würde. Die lernte sie heimlich. Zum Schulfest dann sollte das Stück aufgeführt werden.

Zuerst habe sie gedacht, sie würde einfach krank. Warum sie das nicht umgesetzt habe, wisse sie selbst nicht mehr, denn tatsächlich habe sie sich krank gefühlt, fiebrig und zittrig, Magenschmerzen habe sie bekommen, und sich fast täglich übergeben vor Angst. Ihre Mutter aber habe ihr ein Kostüm genäht, und jedesmal, wenn sie es anprobiert habe, habe sie vor Angst geschwitzt. Ein- oder zweimal habe sie vorm Lehrerzimmer auf die Leiterin der AG gewartet, um sich auszusprechen, aber auch das habe sie nicht getan. Schließlich war es zu spät.

Als die Aula sich füllte, habe sie in den Kulissen gesessen. Niemand habe sich um sie gekümmert, alle seien mit sich beschäftigt gewesen, und so saß sie noch da, als der Vorhang sich öffnete. Ihre Mutter saß in der dritten oder vierten Reihe. Sie habe sie genau gesehen, die ganze Zeit.

Sie habe gar nicht schlecht gespielt, sagte ihr die Leiterin später. Auch sie habe ihren Applaus bekommen, wie man die Nebenrollen eben beklatscht bei einer Schulaufführung, und dass sie schweißnass gewesen sei, als der Vorhang sich schloss, hatte niemand verwundert. Ganz allein saß sie nach der Aufführung im Chorraum hinter der Bühne und zählte die Sekunden, bis es nicht mehr aufzuschieben sein würde, hinauszugehen. Schließlich verließ sie den Raum, verließ die Schule, und setzte sich in eine S-Bahn, die eben fuhr. Stundenlang sei sie so durch die Gegend gefahren. Abends saß sie an einer S-Bahnstation, ließ den letzten Zug ohne sie die Türen schließen, und lief zu Fuß nach Hause, bestimmt 15 Kilometer oder mehr. Sehr spät in der Nacht sei sie angekommen. Ihr Bruder öffnete die Tür.

Ihr Bruder wusste nichts von der ganzen Geschichte. Ihre Mutter hatte also nichts erzählt. Aufatmend legte sie sich zu Bett und schlief. Am nächsten Morgen kam sie bebend vor Angst zum Frühstück. Ihre Mutter aber verlor kein Wort über die Aufführung, nichts über die Hauptrolle, und dass sie nur mit dem Bruder, nicht mit ihr, sprach, wertete sie eher als Vorteil. Bestimmt eine Woche oder so habe ihre Mutter damals nicht mit ihr gesprochen. Dann, eines Morgens einfach so, habe die Mutter wieder ganz normal kommuniziert, zumindest für ihre Verhältnisse, und über den Vorfall sei nie wieder ein Wort verloren worden. Zur nächsten Schulaufführung kam ihre Mutter allerdings nicht (sie spielte eine Busfahrerin), und als sie tatsächlich einmal die Hauptrolle spielte, zehn Jahre später an einer Unibühne, behielt sie den Termin für sich. Mit ihrer Mutter habe sie damals ohnehin wenig Kontakt gehalten.

Donnerstag, 23. Juli 2009

Wandern

Ich glaube, wie waren im Harz. In unserer Jugendherberge hingen überall Brockenhexen herum. In den Zimmern musste man zu sechst schlafen, und mir gegenüber schlief ausgerechnet die D., die ich nicht leiden konnte, weil sie strohdumm war und trotzdem beliebt. Morgens musste man früh aufstehen, ich glaube, um sieben, und im Speisesaal, der natürlich auch voller Brockenhexen hing, an langen Tischen Früchtetee und schlechtes Brot frühstücken, zu dem es Margarine und Marmelade gab und Teewurst, vor der es mir grauste.

Jeden Tag mussten zwei andere Schüler Küchendienst leisten und abends die große Spülmaschine ausräumen. Immerhin entging man so der Deutschlehrerin Frau Dr. F., die nach dem Abendessen eine halbe Stunde vorlas, und zwar mit großer Treffsicherheit etwas komplett Ödes. Frau Dr. F. besaß das absolute Gehör für miese Bücher.

Nachts versuchten (wir waren dreizehn oder so) immer irgendwelche Jungen, ins Mädchenzimmer zu kommen, aber weil ohnehin alle Besucher für dieselben Mädchen kamen, zu denen ich nicht gehörte, stellte ich mich schlafend, wenn es nachts gewaltig gegen die Tür donnerte. Eins der begehrten Mädchen machte dann meistens auf. Irgendwie hatten sich ein paar der Besucher Obstwein verschafft, der ging dann herum. Neben uns schlief Frau Dr. F. und tat so, als würde sie das alles gar nicht mitbekommen. Wahrscheinlich las sie in ihren unverdaulichen Büchern, während meine Freundin S. das erste Mal geküsst wurde, um mir später zu erzählen, Jungen würden sich kalt und feucht anfühlen, nicht unähnlich kleinen Hunden.

Den ganzen Tag mussten wir wandern. Jeder sollte jeden Morgen einen Rucksack mit Brot und Wasser füllen, und dann liefen wir den ganzen Tag hinter Frau Dr. F. und dem Wanderführer her. Rechts waren Bäume, links waren Bäume, in der Mitte war ein relativ breiter, festgetretener Sandweg, und den liefen wir auf und ab. Landschaft sah man eigentlich keine. Ab und zu war irgendwo ein See. Zum Baden allerdings war es zu kalt. Nach fünf Tagen fuhr die ganze Klasse, nicht zuletzt Frau Dr. F., aufatmend wieder nach Hause, aß, was ihr schmeckte, schlief allein (auch Frau Dr. F.), und wanderte nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Ungefähr zwanzig Jahre lang bin ich nie länger als vielleicht so zwei Stunden am Stück zu Fuß gegangen.

Am Samstag aber wird sich das ändern. Die C. hat mich überredet. Wir fahren mit der J. und einem Drei-Personen-Gruppenticket nach Pirna, wandern zwei Tage durch die sächsische Schweiz und übernachten in einem Hotel an der Elbe, das zwar nicht nach Margarine aussieht, auch nicht nach Brockenhexen und Spülmaschinenausräumpflicht für Gäste, aber geküsst wird wohl keiner, nicht einmal von kleinen Hunden, und erst recht nicht .... aber lassen wir das.

Sonntag, 19. Juli 2009

Wo die Welse wohnen

Klar und grün funkelt der See zwischen den Bäumen, und mit den Wolken zieht ein kühler Hauch von der Stadt Richtung Süden. Mit den Füßen im Wasser sitze ich hinten im Boot, lasse mir Sekt von Frau Casino reichen, packe Sandwiches aus, greife in Frau Wortschnittchens Chipstüte und stoße mit Herrn Lucky im Nachbarboot an. Gut sieht er aus, frisch erblondet, schmaler im Gesicht als noch vor Monaten, und mir gegenüber, im dritten Boot, sitzt Herr Glam, schön wie immer, isst Obst und trinkt Wein.

Es gebe hier Welse, höre ich und blinzele in die seltene Sonne. Riesige Fische stelle ich mir vor, bemoost und alt, dicklippig, mächtig und böse, und sehe die Welse am Grunde des Sees zwischen Steinen und Schlick sich finster verschwören. Ganz genau kann ich mir die Welsworte vorstellen, kehlig und tief und mehr ein Knurren als das gläserne, silbrige Glucksen anderer Fische.

In unserem Boot aber sind die Welse weit weg. Ich esse ein bißchen mehr, als ich eigentlich wollte, trinke über den Nachmittag verteilt bestimmt eine ganze Flasche Sekt, lache, erzähle Dummheiten, wie es sich für eine angetrunkene Frau gehört, und bedaure ein wenig, dass gestern meine Pediküre keine Zeit für mich hatte, und nun sehen meine Fußnägel aus, nun ja, eben wie selbst lackiert. Ich kann das nicht so richtig gut.

Unter uns aber haben die Welse ihre Verschwörung besiegelt. Bestimmt opfern die Welse nun wehrlose, kleinere Fische, Krebstiere vielleicht, vielleicht auch (oh, Agamemnon) der Welse jüngere Töchter, und verteilen vorm Raubzug Blut und schleimige Därme auf gutes Gelingen im See. Mag sein, dass die Welse nun rüsten, Schlachtpläne hecken, und die Beute verteilen, die erlegt werden soll, und noch nichts davon weiß.

Auf dem Boot, hoch über den Welsen, ziehe ich derweil meine Jeans aus. Aus verschiedenen Gründen trage ich bekanntlich keine Bikinis, sondern einen körperverhüllenden schwarzen Badeanzug, und fühle mich wie immer, wenn es zum Baden geht, einen Moment lang sehr nackt und sehr fett und irgendwie quallig. Dann geht es wieder mit mir und ich springe ins Wasser. Der See ist recht kalt.

Unter mir strömen die Welse zusammen. Die ersten fletschen freudig die schleimigen Kiefer. Der Feldherr regiert mit den Flossen die Truppen. Barteln zittern auf den Kiefern der Streiter, Schlachtrufe werden geknarzt, und die Kompanie steigt nach oben. Mit geschlossenen Augen spüre ich die Welse sich nähern. Mit ausgestreckten Füßen, das weiß ich, könnte ich die Welse berühren, und lege mich flach auf das Wasser, damit das nicht passiert.

Auch die anderen schwimmen rund um die Boote. Rechts von mir zieht Frau Casino weitere Kreise. Frau Wortschnittchen und die Herren Lucky und Glam schwimmen direkt über den Welsen, zum Greifen nah über den Rücken der Fische, und doch ein Stück, ein Hauch, eine Handbreit zu hoch. Die Welse schnappen und toben.

Nicht lange jedoch währt der Kampfgeist der Welse. Nach und nach sinken die Streiter ermattet nach unten, knurren vor Ärger, graben sich ein in den Schlamm und geben einander die Schuld. Der Feldherr, hört man, habe sein Amt aufgeben müssen. Die Opfer waren umsonst. Ohnmächtig sehen die Welse nun zu, wie der See sich leert von Armen, Körpern und Beinen, und nur der Schatten der Boote sich langsam, im Zickzack, nach Westen entfernt.

Donnerstag, 16. Juli 2009

Lorelei und Friedrichshain

Die kleine Schwester der H. sieht richtig gut aus. Wie die H. ist sie bestimmt 1,80 groß, sehr, sehr schlank, aber anders als die H. investiert sie dermaßen viel Zeit in ihr Aussehen, dass sie nicht nur ganz gut, sondern so phantastisch schön aussieht, dass allein ihr Herumgehen in Friedrichshain letzte Woche ausgereicht haben soll, einen jungen Mann ins Verderben zu reißen.

Man muss sich also die kleine Schwester vorstellen, wie sie irgendwo am Boxhagener Platz von der Bahn zu einer Verabredung geht. Rundherum ist alles so ein bißchen räudig, lauter Bars mit billigen, bunten Getränken zu Absturzpreisen, und die Jugend aller fünf Kontinente feiert den Sommer, die Ferien und die Sorglosigkeit vor dem 20. Geburtstag mit viel, viel Alkohol und noch mehr Lärm. Die meisten jungen Mädchen dort rund um die Simon-Dach-Straße herum kommen aus England oder Australien und sind ein bißchen zu dick und ein wenig zu ausgezogen, als dass man diesen Umstand übersehen könnte, und es mag sein, dass es der Kontrast zwischen jenen und der kleinen Schwester war, der das gute Aussehen der Schwester noch ein wenig vorteilhafter herausgestellt hat. Vielleicht war es auch die einbrechende Dunkelheit, die sinnenverwirrende Hitze zwischen den Häusern, mag auch sein, es habe der junge Mann auch schon ein wenig getrunken, jedenfalls kam er auf dem Fahrrad angefahren, starrte die kleine Schwester an und verlangsamte sogar ein bißchen. Ein wenig geniert (sagt sie) sah die kleine Schwester weg.

Für einen Moment verdeckte die Straßenbahn die kleine Schwester der H. Möglicherweise hielt der junge Mann in diesem Moment an, das weiß man nicht genau. Jedenfalls war er, dabei ist die Berliner Tram nicht schnell, noch auf gleicher Höhe, als die Straßenbahn vorüberfuhr und den Blick wieder freigab auf die andere Seite der Straße, die kleine Schwester und ihr gutes Aussehen. Noch immer, oder vielmehr erneut, starrte der junge Mann sie an. Immerhin kam er der kleinen Schwester nicht hinterher, sondern fuhr weiter, weiter, und schließlich vorbei.

Die kleine Schwester verlangsamte. Es ist nicht lustig auf zehn Zentimetern Absatz herumzugehen, nach einigen Minuten schmerzen die Ballen, die Riemchen schneiden ins Fleisch, und dann muss man sehr zurückhaltend auftreten, sonst tut man sich weh. Die kleine Schwester schlich also ein paar Meter vorsichtig die Straße entlang. Mit der einen Hand grub sie in ihrer Tasche nach ihrem Telephon, mit der anderen hielt sie die Tasche geöffnet, und weil sie auch in die Tasche schaute, denn vielleicht war das Telephon ja besser zu sehen als zu ertasten, sah sie nicht hin, als es plötzlich knallte. Der junge Mann war in die Straßenbahnschienen gefahren. Dann war er umgekippt.

Die kleine Schwester zögerte nur ganz kurz, bevor sie loslief. Zum einen kann man auf Sandaletten nicht richtig laufen, zum anderen meidet man möglicherweise Irrsinnige selbst dann lieber, wenn sie Unfälle haben und auf der Straße herumliegen. Die kleine Schwester aber ist gutmütig, überquerte die Straße und half erst dem jungen Mann und dann seinem Rad auf. Der junge Mann stand also neben ihr, klopfte seine Jeans ab, griff nach seinem leicht lädierten Rad, bedankte sich, stotterte ein bißchen und fuhr wieder los. Einige Meter später jedoch wurde er langsamer, kehrte um und hielt erst vor der kleinen Schwester wieder an. Ob sie ...?, fragte er. Ob nicht. Oder ob? - Denn ein wenig peinlich war ihm das Ganze wohl schon.

Außerordentlich schön sei die kleine Schwester, erläuterte er seinen Vorstoß. Umgedreht habe er sich nach ihr, denn so schön seien regelmäßig keine Leute, die öffentlich auf Straßen herumgehen, und so sei er, das habe sie ja gesehen, beim Schauen des Weges verlustig gegangen, denn auf eins nur könne man achten, auf die Straße oder eine schöne Frau, und so hätten nun er und sein Rad jeder einen kleinen Schaden davongetragen. Kleine Schäden aber ziehe man sich nicht umsonst zu, mit kleinen Schäden bezwecke das Universum meist etwas, und in diesem konkreten Fall sei der kleine Schaden doch in offensichtlicher Weise zur Kontakaufnahme bestimmt gewesen, denn andernfalls wäre er längst jenseits der Frankfurter Allee und die schöne Schwester an einem ebenfalls anderen Ort. Dem Universum aber dürfe man sich nicht widersetzen, und so sei die Bekanntschaft fortzusetzen. Da aber schöne Frauen sich nicht auf der Straße mit wildfremden Leuten zu verabreden pflegen, sondern ein wenig Bedenkzeit benötigten, schreibe er seine Telephonnummer auf. Dann werde er warten.

"Und?", frage ich die H. und bestelle noch ein Glas Ombrino. - Sie habe ihn wirklich angerufen, erfahre ich. Man sei verabredet auf Dienstag in der Mensa. "Dann hat er ja Glück gehabt.", kommentiert der Dritte am Tisch den Bericht. "Kommt ganz darauf an.", schüttelt die H. den Kopf und lacht. Ihre Schwester sei - mehr wolle sie dazu nicht sagen - ein wenig schwierig.



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