Montag, 13. November 2006

Am Anfang

1982. Erster Schultag. Neben dem Rektor stehen die Lehrerinnen und warten auf ihre Klassen, und ich kneife die Augen ein wenig zusammen, um ihre Gesichter zu sehen. Der Dicke schaut nett aus, denke ich, von ganz weit hinten in der Aula. Die Blonde daneben lächelt gutmütig und knetet ein bißchen verlegen die Hände. Sympathisch finde ich das, denn auch ich bin mächtig verlegen, meine Sarah-Kay-Schultüte im Arm, mit langen Zöpfen, und die ganzen anderen Kinder vor, hinter und neben mir, die ich mir selbstbewusst vorstelle, klug und fleißig und mir haushoch überlegen.

Als aber die Namen aufgerufen werden, komme ich weder zum netten Dicken noch zur verlegenen Blonden, sondern zu Frau S. Frau S. gefällt mir nicht. Ein strichdünner Mund, harte Falten die rechts und links der Nase gezirkelt scharf zum Kinn führen, und ein magerer Hals, aus dem die Knochen herausstehen. Alles an Frau S. ist hart und spitz, denke ich, und verkrieche mich nach hinten.

Vor uns stehen Schilder mit Namen, und jeder soll etwas sagen. Wie viele Geschwister er hat beispielsweise, wo er wohnt, und was der Vater macht, wenn er ins Büro geht. „Telefonieren!“, sage ich, und die anderen Kinder lachen. - So klug sind sie auch nicht, wie ich gefürchtet hatte, denn als ich stolz erzähle, dass ich schon lesen kann, erhält Frau S. auf ihre Frage, wer denn sonst schon der Schule ins Handwerk gepfuscht habe, nur eine weitere Antwort, die nicht „nein“ lautet.

„Das haben wir hier nicht so gern.“, sagt Frau S. zu mir, und ich nicke beschämt. Auch Schreiben hätte ich daheim bestimmt ganz falsch gelernt, nicht nach der Ganzwort-Methode nämlich, wie Frau S. beim ersten Elternabend meine Eltern zurechtweist, und deswegen werde ich später kein ganzheitliches Verhältnis zu Texten erwerben. Außerdem male ich die Buchstaben falsch, die schön geschwungenen Bögen unter dem „f“ sind zu kurz und zu gerade, der Wasserhahn links am „u“ fehlt, und überhaupt mache ich alles falsch, bin viel zu vorlaut und lasse die anderen Kinder nicht zu Wort kommen.

Modeste hat Probleme, sich einzufügen, steht in meinem ersten Zeugnis.

Ein ganzes Jahr lernen die anderen Kinder die Buchstaben. Ich träume aus dem Fenster, denke mir Geschichten aus, in denen die Katze des Hausmeisters, die langen, goldenen Zöpfe der K. neben mir, und der Keller der Schule eine große Rolle spielen, in dem man sich verlaufen kann, wie ein Großer aus der dritten Klasse versichert. Mir ist langweilig. Aus lauter Langeweile steche ich die beliebte, hübsche K. mit meinem Lineal in die Rippen, sie quiekt, und Frau S. schickt mich auf den Flur. Da stehe ich ganz allein, noch zehn Minuten bis zur Pause, und wische mir die Tränen von den Wangen. Die Schule hatte ich mir anders vorgestellt.

Wegen des Lineals und auch sonst will die K. nicht mehr neben mir sitzen, und Frau S. findet es ohnehin besser, wenn ich direkt vorne sitze, genau vor ihr, damit ich nichts mehr anstellen kann. So sitze ich also am äußeren Ende des „U“, direkt neben M., der immer ein bißchen schlecht riecht.

Am Morgen bin ich immer schlechter aus dem Bett zu bekommen, zur Schule gehe ich immer ein bißchen ungern, außer, wenn in der ersten Stunde Sport ist oder Kunst, denn diese Fächer unterrichtet die nette Frau D., die meine Bilder und meine Übungen am Reck großartig findet die mich vorturnen lässt und meine Bilder allen Kindern zeigt. Das kostet mich die wohl letzten Sympathien.

Von den anderen Kindern bin ich enttäuscht. Nur mit C. und M. bin ich befreundet, jeden Nachmittag treffen wir uns, streicheln die Pferde auf der Koppel, verkaufen Lose an Nachbarn, erzählen uns erfundene Geschichten und versichern, sie seien wahr. Als ich Geburtstag feiern soll, lade ich nur C. und M. ein.

„Hast du sonst keine Freunde?“, fragt meine Mutter ein wenig enttäuscht, und ich verneine. K. sei doch nett, ermahnt mich meine Mutter, die Tochter unseres Augenarztes, oder L., die nur ein paar Häuser entfernt wohnt, und schon seit zwei Jahren Geige spielt. Ich mag K. und L. nicht, lade sie trotzdem ein, und gleichfalls voller Abneigung erscheinen sie mit Geschenken, die ihre Mütter gekauft haben, die wiederum mit meiner Mutter auf der Terrasse sitzen und Kuchen essen.

K. und L., bin ich mir sicher, hätte meine Mutter lieber als Kind, auch wenn sie das Gegenteil versichert. Ich kann nicht Maß halten, erkenne ich. Ich bin zu laut, zu nachlässig, zu unpünktlich und zu verträumt. Gut in der Schule bin ich, gut werde ich sein bis ich 13 bin und keine Lust mehr habe, dass meine Arbeiten vor der Klasse vorgelesen werden, und Kinder abwehrend über mich kichern, mit denen ich befreundet sein will. Ein gutes Zeugnis bekomme ich deswegen am Ende der ersten Klasse, das Frau S. nicht gern geschrieben haben wird und mir verkniffen überreicht, und ich ahne, dass es nicht einfach sein wird, egal was, und dass das Leben schöner wäre, wäre ich jemand anders.

Dass das nicht geht, ahne ich nicht.

(Hier eine Schulgeschichte vom Herrn Che, die nicht in den Kommentaren untergehen soll.)

Mittwoch, 8. November 2006

Die Tarnkappe

Sie, sofern es sich bei Ihnen um einen männlichen Leser handelt, stellen sich sicherlich alles Mögliche vor, was Frauen anhaben, wenn sie Ihnen gefallen. Jeans zum Beispiel. Oder Kleider. Röcke, Stiefel, breite Gürtel und schmale Träger, glitzernde Täschchen oder T-Shirts mit und ohne Aufschriften drauf. An Hosenanzüge aber denken Sie nicht. Eine Frau, denken Sie, sollte weiblich ausschauen, Diva oder Mädchen, aber eine Frau im Hosenanzug ist nicht als Frau unterwegs, sondern eher als so eine Art Arbeitsbiene, ein Geschöpf, welches nicht zum Küssen, sondern zum Arbeiten gemacht ist, und deswegen konsequent übersehen wird.

Sie aber, sofern Sie eine Frau sind: Sie finden das ungerecht. Sie steigen morgens in einen Hosenanzug, schwarz, so neutral, wie ein Hosenanzug eben ausschaut, und versinken in einem Loch der Unsichtbarkeit. Wie ein kleines Arbeitspferd fühlen Sie sich, wie eins dieser falbfarbenen, robusten Pferdchen, mit denen man weit über Land und vielleicht sogar in den Krieg ziehen kann, und denen man allenfalls einmal die Seiten tätschelt. Nie spricht man von den Arbeitspferden, nie schaut man die Frau im Hosenanzug an, und abends, wenn Sie sich umziehen könnten, um wieder sichtbar zu werden, dann arbeiten Sie immer noch. Danach gehen Sie schlafen.

Im Traum aber stellen Sie sich vor, einmal wieder ein Kleid anzuhaben, zu leuchten und zu lachen, eine Frau zu sein, die sich irgendjemand vorstellt, wenn er allein in der U-Bahn sitzt. Eine Frau, die so sichtbar ist, wie eine Frau überhaupt sein kann, und fürchten doch, wenn Sie erwachen, dass eines nahen Tages der Hosenanzug festgewachsen sein wird an Ihnen, unausziehbar, und Sie selbst dann wie eine Ganzkörpertarnkappe bedeckt, wenn sie einen Rock anhaben, ein kurzes Kleid, oder sogar nichts.

Montag, 6. November 2006

All die Asche unserer Herzen

Es sei ihr im Alter nicht mehr gut gegangen, sagt mein Gegenüber und schiebt mit zwei Fingern das obere Ende der Kerze zusammen, so dass die Flamme fast verlischt. Sie sei immer still gewesen, so dass nicht einmal sein Vater als ihr einziger Sohn bemerkt hätte, wie im Kopf der Großmutter die Lichter ausgingen, und sie nicht nur wenig sprach, sondern wenig dachte oder zumindest etwas ganz anderes als alle anderen Leute, und es irgendwann nicht einmal mehr zum Zubinden der Schuhe reichte oder zum Kartoffeln Kochen.

Ins Heim hätte die Großmutter zu allem Überfluss fast gemusst, die schon ein schweres Leben gehabt habe, und der am Ende um ein Haar auch dies nicht erspart geblieben wäre. Immer hätte die Großmutter Angst gehabt vor dem Heim, noch mehr als andere Leute hätte sie sich gefürchtet, denn als Kind, als kleines Mädchen, hätte die Großmutter im Heim gelebt, wo sie als uneheliches Kind eines Dienstmädchens abgegeben worden sei, als ihre Mutter starb. Dort hätten sie ihr die Haare abgeschnitten, und einen grauen Kittel hätte sie tragen müssen, immer denselben, denn mehr war nicht vorgesehen. Gefroren habe sie den ganzen Winter.

Auch die Großmutter sei Dienstmädchen geworden, mit vierzehn, und hätte hart gearbeitet alle Tage, gewaschen und geputzt, und auch am Abend sei die Arbeit noch nicht zu Ende gewesen, so dass die Großmutter ein Kind bekommen hätte, mit 16, die Tante meines Gegenüber, und den Vater zwei Jahre darauf. Mit den Kindern des Brotgebers seien die Kinder aufgezogen worden, großzügig zusammen zur Schule geschickt worden, und zu den unehelichen Kindern sei der Großvater, der Brotgeber der Großmutter, nicht anders gewesen als zu den ehelichen. Das sei selten gewesen, damals in den Fünfziger Jahren, und die Großmutter sei ihm so dankbar gewesen, dass es fast peinlich gewesen sei. Herrn Doktor, hätte sie ihn trotzdem immer genannt. Nie beim Vornamen.

Ob sie glücklich war oder unglücklich dabei, habe sie nie gesagt. Vielleicht gab es Glück gar nicht in ihrer Vorstellung, vielleicht war Glück nur etwas für andere Leute. Für die Frau des Herrn Doktor, die Mutter der anderen Kinder, aber offenbar nicht. Zweimal versuchte die Frau Doktor zu sterben, wurde aufgehalten auf dem Weg ins wunschlose Dunkel und lebte weiter. Jedesmal pflegte die Großmutter die andere Frau, wusch sie, fütterte sie, und eines Tages stand die Frau Doktor wieder auf.

Die Kinder des Herrn Doktor studierten, und auch der Sohn des Dienstmädchens ging zur Uni und wurde Ingenieur. Als der Herr Doktor starb, standen alle Kinder und die beiden Frauen am Grab. Dann ging jede ihrer Wege.

Man schrieb sich zu Weihnachten, man besuchte sich, man bedauerte sich, als die Tochter des Dienstmädchens starb, und der älteste Sohn der Frau Doktor: Einmal an Drogen und einmal bei einem betrunkenen, dummen Unfall. „Sie können stolz sein!“, schrieb die Frau Doktor, als der Sohn des Dienstmädchens Leiter eines Abteilung in dem Unternehmen wurde, in das er nach dem Studium eingetreten war, und erschien zur Taufe der Enkel. Als der Sohn von seiner Firma ins Ausland geschickt wurde, bedauerte die eine Frau die andere, und als Großmutter nicht mehr schreiben und nicht mehr sprechen konnte, schrieb die Frau Doktor an den Sohn.

Seine Mutter sei krank, schrieb die alte Frau Doktor. Eine Schande sei es, die alte Mutter nicht zu sich zu nehmen, und er solle sich schämen in dem fremden Land. Besuchen solle er zumindest seine Mutter, aber nicht im Heim, sondern bei ihr. Als der Sohn anrief, wohnte die Mutter schon bei der Frau Doktor.

Es gehe ihr gut, sagte die Frau Doktor, und beendete das Gespräch, weil Auslandsgespräche so teuer seien. Er möge schreiben, denn das sei billiger. Der Mutter gehe es gut, sie werde gefüttert und gewaschen, man sei überdies aneinander gewöhnt, und Geld brauche sie nicht. Das habe sie selber.

Großzügig und beschämend sei das gewesen, sagt mein Gegenüber, hält das Wachs der Kerze mit dem Finger auf, und ein paar grüne Tropfen erstarren auf dem Nagel. „Schon.“, antworte ich, und schaudere für einen Moment, wie sehr das Leben und die Liebe die beiden Frauen zerbrochen haben muss, wie fein zermahlen die Sehnsucht nach dem Geliebtwerden, nach dem Einzig- und Einigsein am Ende gewesen sein muss, um diese Geste zu ermöglichen.

„So will ich nie sein.“, sage ich, um überhaupt etwas zu sagen, und ziehe die Jacke enger um meine Schultern, denn draußen ist es kalt, und der Winter hat gerade erst begonnen.

Sonntag, 5. November 2006

Wohin wegfahren

Zur langen Liste von Sachen, Leuten oder Meinungen, die ich doof finde, gehört ja eigentlich auch Individualurlaub: Leute, die denken, sie seien so besonders, dass ihnen andere Leute, die irgendwo hinfahren, einfach unzumutbar wären. Solche Leute finden regelmäßig, dass ihr persönliches Erleben der Akropolis so verschieden sei von dem, was alle anderen Leute sehen, wenn sie nach Athen fahren, dass sie allen anderen Reisenden am liebsten die Berechtigung absprechen würden, die deutschen Grenzen zu überschreiten, und die sich heimgekehrt stolz brüsten, nur mit Einheimischen gesprochen zu haben, und bei der Erwähnung anderer deutscher Touristen genervt die Augen verdrehen.

Weil die Einheimischen aber gar keine Lust haben, deutsche Individualreisende in ihrer Mitte aufzunehmen, und die deutschen Individualreisenden auch eigentlich gar keine Lust haben, sich die ganze Zeit mit Leuten zu unterhalten, die sich für die Ziegenzucht viel mehr interessieren als für irgendwelche dahergelaufenen Deutschen in Flip-Flops und Wickelröcken, sitzen die Individualreisenden, wie man weiß, am Ende doch alle miteinander in irgendwelchen Internetcafés oder Hostels, in denen man für € 5,-- ein Etagenbett in einem Schlafsaal beschlafen kann. Mit Bussen, in denen außer den Individualreisenden lauter arme Bauern ihre Hühner transportieren, fahren die stolzen Reisenden in Dörfer, die so unterhaltsam sind wie Grafenschachen oder Krummhörn, nur eben woanders, um fremde Leute mit ihrem Interesse zu belästigen, fremden Menschen durch die Fenster zu schauen, und zu jubeln, wenn da alles anders ist, als zu Hause.

Theoretisch ist Pauschalurlaub deswegen eine feine Sache. Man stört die Einheimischen nicht bei ihren alltäglichen Verrichtungen, man biedert sich nicht an bei fremden Kulturkreisen, die ich in aller Regel ohnehin weniger interessant finde als den Kulturkreis Berlin, der mir zumindest meistens völlig reicht, und man gibt ein bißchen Geld aus, mit dem die Leute vor Ort sich Kraftfahrzeuge kaufen können oder ipods oder sonst irgendetwas, was Leute woanders genauso gern hätten wie Leute hier. Praktisch allerdings sind der geschätzte Gefährte und ich irgendwann als Studenten, als es uns in Deutschland einfach zu kalt war, in ein Hotel auf Djerba gefahren, wo man Golf spielen und Nichtstun konnte, und würden dieses Erlebnis alles in allem ungern wiederholen. Außer uns waren alle fünfzig, weil wir Hotels mit Animation aus grundsätzlichen Erwägungen ausgeschlossen hatten, und die an sich ansprechenden Buffets waren offensichtlich geeignet, die schlechtesten Instinkte der anderen Reisenden zu wecken, die sich unglaubliche Mengen von Schalentieren auf ihre Teller luden, als hätten sie noch nicht Gambas gesehen, und einige Tage nach unserer Ankunft setzt sich ein Mann mittleren Alters an den Pool und begann, mit einem Hornhauthobel an seinen Füßen herumzureiben. Um den Pool herum entstand eine gewisse Unruhe. Verstörte Touristen kniffen sich gegenseitig in die Arme, um den Realitätsgehalt des Gesehenen zu verifizieren. Ein Gemurmel entstand, und schließlich stand ein anderer Mann auf und ging zu dem Hornhauthobler, der wild und trotzig fortfuhr, seine Füße zu traktieren. Den Pool nutzten wir nicht mehr.

Statt dessen einfach so wegfahren, ein Hotel irgendwo, möglichst angenehm verrottet ohne Geschäftsreisende mit ihren Reisetrolleys, vielleicht Helsinki oder Sofia, Inbegriffe der Abwesenheit mit ein bißchen Spazierengehen und ziellose Gesprächen - alles schön, aber nicht im November in Europa, wenn auch bekannt angenehme Städte aussehen wie Herne in der großen Depression. Weit wegfahren wäre toll, aber der geschätzte Gefährte ist gerade recht ortsfest, und über andere Reisebegleiter verfüge ich nicht.

Aber vom 28.11. bis 07.12. will ich weg. Wer mir sagt, wohin, bekommt eine Karte.

Sonntag, 29. Oktober 2006

The Technicolor Zen of Unterschicht

Früher, also ganz früher, als in Berlin noch ein Kaiser saß, oder sogar noch viel früher, als es noch nicht einmal einen Kaiser gab, sondern bloß einen König von Preußen, waren die Verhältnisse klar: Es gab sehr viele Bauern, überhaupt war fast jeder Bauer, und alle Bauern arbeiteten den ganzen Tag. Über den Bauern gab es Bürger, die arbeiteten zwar auch ziemlich viel, hatten abends aber noch Zeit, ein bißchen Hausmusik zu machen oder Gedichte oder genug Scherenschnitte, um alle Wände für die nächsten 300 Jahre damit zuzuhängen.

Über den Bauern und Bürgern aber thronte, breitbeinig und stiernackig, der Junker, der adelige Herr, und arbeitete so gut wie gar nicht. Aus purer Langeweile ergab er sich der Gartenbaukunst, sammelte Gemälde, die andere Leute gemalt hatten, und tanzte, jagte, bekam Kinder, und ab und an zog er in den Krieg. Manchmal starb er dabei, meistens starben nur die anderen.

Dann aber verloren die Junker allzu viele Kriege, in Berlin saß kein Kaiser mehr, sondern bloß noch Präsidenten, die Junker wurden irgendwann von der Roten Armee aus ihren Schlössern vertrieben und mussten sich Berufe suchen, und die Bauern, die längst keine Bauern mehr waren, sondern Facharbeiter bei VW oder Siemens oder so, bekamen jedes Jahr mehr Geld. Häuser kauften sich die gewesenen Bauern, Fernsehgeräte und Kraftfahrzeuge, traten dem Bertelsmann Buchclub bei, ließen sich viermal im Jahr ein Buch schicken, und fuhren jedes Jahr dahin, wo es warm ist und Palmen wachsen.

Ziemlich viel Arbeit war es natürlich trotzdem. Morgens ging der Bauer, der jetzt Arbeiter war, mit seiner Brotdose aus dem Haus, und kam abends ganz zusammengedrückt nach Hause. Seine Frau putzte irgendwo, und beide legten sich mächtig krumm, damit ihr Sohn Zahnarzt werden konnte.

Besonders glücklich war der Arbeiter nicht. Die Raten fürs Haus waren hoch, der Wagen ständig kaputt, der Sohn fiel durchs Physikum, und seine Frau trug den ganzen Tag Kittelschürzen und Besenreiser an den Beinen. Zwar setzten sich die Gewerkschaft und die SPD mächtig dafür ein, dass alles immer besser wurde, die Arbeit weniger, das Geld mehr, die Fernseher größer und das Physikum leichter, trotzdem verspürte der Arbeiter nachts, wenn er nach Hause kam, einen bohrenden Schmerzin der Brust, die Leere des Lebens drückte ihm das Herz ab, das ganze Gewicht seines Seins fiel ihm auf den Kopf, und eines Tages wurde er Buddhist.

Was Richard Gere kann, kann ich auch, sagte sich der Arbeiter. Inneren Frieden durch Verzicht, predigte er seiner Frau. Warum 2.500 Euro, wenn die Hälfte auch reicht, erkannte er und kündigte seinen Job. Mühelosigkeit, stellte er sich vor. Schmerzlosigkeit, ein sanftes, buntes Fließen, fernab der grellen und billigen Extasen der Moderne, ein Reich jenseits des Rauschs und der vergeblichen, scheinbaren Siege, wünschte sich der Arbeiter und stand morgens einfach nicht mehr auf. Wenn er aufstand, trug er nur noch Jogginghosen, die ihn nicht beengten, trank Bier, das das Leben weich zeichnete, ein wenig wattig, und bat seine Frau, sich auch so bunt anzumalen wie die Damen, die man im Fernsehen sieht, um sich einer unkomplizierten, ungezwungenen Sinnlichkeit hinzugeben und nackt unter blühenden Bäumen mit lauter anderen Arbeitslosen wie die Kinder Gottes am ersten Morgen der Welt an der Ostsee einherzuwandeln.

Irgendwer aber, so erkannten die Anführer der deutschen Arbeiterbewegung, musste die ganze Veranstaltung bezahlen. Autos bauen konnten zwar auch unbuddhistische Leute irgendwo anders, Essen kochen muss auch keiner, der eine Microwelle hat, und überhaupt war es gar nicht nötig, dass die Arbeiter arbeiten, wenn nur andere Leute arbeiten und von ihrem Geld abgeben, und irgendwer mit seiner Arbeit den deutschen Buddhismus bezahlt.

Jahrhundertelang, rechtfertigten die deutschen Arbeiterführer ihr Tun, hätten die Bürger und Junker ihre Hände in den Schoß gelegt. Nun sei die Zeit gekommen, den Spieß einmal umzudrehen, die Arbeit radikal zu verschieben, diejenigen zwölf Stunden am Tag in die Büros zu scheuchen, die derlei auch einmal getan hätten, und auf diese Weise den friedlichen, knallbunten Buddhismus zu finanzieren, den die Arbeiter sich, wie jeder billig und gerecht denkende Mensch kaum bestreiten könne, über Jahrhunderte redlich verdient hätten.

Sollen die doch, deuteten die Arbeiterführer abfällig in Richtung der himmelstrebenden Türme des Geldes, arbeiten, bis sie mit vierzig tot an ihren Schreibtischen umkippen. Sollen die doch weiter glauben, die Herren der Republik zu sein und zu bleiben. Sollen die doch verdienen, was sie wollen, wenn nur der ehemalige Arbeiter mit dem seligen Lächeln derer, die erkannt haben, dass das Leben nicht mehr zu bieten hat als das Glück der Schmerz- und Wunschlosigkeit, auf seinem Sofa sitzen kann, das er, wie man weiß, nicht mehr verlassen wird, denn dort ist es schön.



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