Über Träume

Samstag, 16. Mai 2009

Journal :: 15.05.

Laut Dr. Freud, meine Damen und Herren, stellen Träume Botschaften unseres Unterbewusstseins dar, das uns etwas mitzuteilen habe, was wir tagsüber verdrängt haben und folglich nicht wissen. Wenn nun aber das Unterbewusstsein mancher Menschen schlechthin nichts mitzuteilen hat, weil untenrum ebenso wenig Mitteilenswertes passiert, wie im Dasein der Gesamtpersönlichkeit, dann, hochverehrtes Publikum, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass des Nachts das Unterbewusstsein beginnt, schieren Unsinn auszustrahlen, der sich zu echten Unterbewusstseinsbotschaftsträumen verhält wie die Darstellung der schönsten Bahnstrecken Deutschlands zu einer Wiedergabe des Faust.

Wenn eine Woche später immer noch nichts passiert, woran das Unterbewusstsein sich abarbeiten könnte, scheint der Programmdirektor dieses offenbar etwas materialarmen Senders zum Äußersten zu greifen, damit überhaupt noch etwas über den Bildschirm rauscht, und so träume ich vergangene Nacht zum dritten Mal in wenigen Wochen, man habe mein Badezimmer zugemauert.

Ärgerlich mehr als wirklich betroffen stehe ich angesichts dieses Befunds in Wäsche vor der Türöffnung, die ungefähr bis zur Brusthöhe mit Ziegelsteinen und grobem, fleckigen Mörtel angefüllt ist. Aus der Öffnung zwischen Rahmen und der Mauer zwischen mir und meinem Bad dringen warme, nach Blüten duftende Schwaden, Kerzenschein, etwas plätschert, vielleicht die Wanne, und wenn ich mich umdrehe, um ungewaschen das Haus zu verlassen, wache ich auf.

"Stellen sie endlich diese Wiederholungen ein!", befehle ich der unterirdischen Sendeanstalt, welche indes - widerspenstig, wie es einem quasi unkündbaren Apparat zu eigen ist - fortfährt, in sinn- und bedeutungsfreier Weise des Nachts mein Bad zu verschließen. - "Sorg du doch für mehr Input.", höre ich es aus meinem Inneren schallen, und mir scheint, es werde höhnisch gelacht.

(Tags war das Bad natürlich wieder offen. Ebenso das Büro, und das auch gleich für elf geschlagene Stunden.)

Samstag, 21. Februar 2009

Vom Ende der Welt

Anlasslos eigentlich stelle ich mir vor, die Welt ginge unter. Von einem Tag auf den anderen verschwänden Buchstaben, verblassten in den Büchern und würden beim Sprechen auf einmal nicht mehr gefunden. Erst fielen nur wenig genutzte, selten vermisste Lettern ins Nichts. Das „X“ etwa. Oder das „Q“. Dann aber beschleunigte sich der Verfall, das „G“ schwände dahin, eines Tages das „T“, die Vokale gar, und angstvoll liefen die Menschen stumm durcheinander.

Eines Morgens wären alle Katzen nicht mehr da. Die Pferde zerflössen als blutiger Schaum in den Ställen. Die Kühe aber stünden noch Wochen auf den Weiden, schaukelten mit den Köpfen und vergäßen, dass das Gras zum Fressen da, und das Wasser trinkbar sei. Den Menschen selbst verliefen erst die Gedanken wie flüssige Farben im Ausguss. Schmerzlos, weit jenseits von Wort und Gedanken, säßen viele des Nachts in den Ecken und betrachteten glucksend die eigene Hand. Am Tag danach blieben manche liegen und verhungerte binnen Tagen im Bett. Andere vergäßen zu atmen. Manche Herzen schlügen abends um sechs nicht mehr weiter. Die Toten liefen dann noch ein paar Tage herum.

Die Töne blieben aus. In den Oktaven klafften Lücken: Schmerzhafte Momente der Stille. Die Farben der Welt würden verschwimmen, komprimierten zu immer weniger Variationen, und auch der Raum selbst würde mürbe, fadenscheinig und fiele zusammen. Löcher täten sich auf, die keiner mehr sieht, bis am Ende die Erde zittern würde, und die Brandung sich ein letztes Mal an den Steilküsten bricht. Hell würde es werden, sehr hell, wenn alle Zeit ein Ende hätte; und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.

Mittwoch, 28. Januar 2009

Dein Vogelmann

Heut’ nacht, meine Liebe, hast du Hochzeit gefeiert und ich war da. Ein violettes Kleid hatte ich an, Volants an Saum und Ärmeln, und die Haare hochgesteckt mit einer Agraffe. Violett war auch dein Schleier, dein Kleid war blau, marineblau, und du sahst alt aus, alt und müde, und wenn die Sonne schien, schien sie manchmal durch dich durch.

Alt und müde war auch dein Priester, so alt, dass seine Haut schon ganz leer war, wie ein Handschuh ohne Hand, und seine Stimme war so hoch und fein, dass ich ab und zu nicht verstand, was er sagte. Alt und grau, hellgrau wie Staub, waren auch deine Gäste und zerflossen im Licht.

Angst habe ich bekommen, um dich und um mich. Dass sie mich nicht mehr rauslassen würden, hab ich gefürchtet, dass die Tür geschlossen bliebe nach der Trauung, und wir alle ersticken würden in der Kapelle, die aus Stein war und ganz ohne Schmuck und Tücher. Dass nicht einmal Kerzen brannten, hat mich erschreckt, dass der Priester sich abstützte mit der Hand auf dem Altar, einem einzigen, bruch- und schmucklosen Fels, und deine Gäste – wurde es still – röchelten, laut und rasselnd die Luft einzogen, keuchten, lauter als du, lauter als die Segensworte des Priesters, und dass dein Bräutigam schrie, auf einmal, lachte, kreischte vor Lachen, die Arme hochriss und tanzte und sprang, die Beine wirbeln ließ bis zur Hüfte und drüber, dass dein Bräutigam Krallen hatte, vier an jeder Hand, und auf seinen Schultern, vom Schlüsselbein aufwärts, den Kopf eines Habichts mit rotem, klaffendem Schnabel, so scharf wie zwei Messer und voller Blut.

Mittwoch, 5. November 2008

Die Pelzbitte

Aber bitte, wenn du einmal etwas über hast, und etwas über hast auch für mich, dann kauf mir bloß keinen Porsche. Kauf mir bitte keine Ringe und Ketten. Keine Perlen will ich von dir haben, keine blitzenden Steine. Kein Silber, kein Gold.

Kauf mir einen Pelz.

Weiß soll mein Pelz von dir sein, so weiß wie Milch, wie Schnee, wie der Winter. So weich will ich meinen Pelz wie kein Fuchs der Welt sein kann, Nerze vielleicht, ach, noch viel weicher, mit Härchen so fein wie die Wimpern von Kindern. Das Fell von einem ganz, ganz kleinen und zierlichen Tier, und dann tausend davon, denn lang soll der Pelz sein, fast bis zu den Knöcheln. Schmal will ich den Pelz, hochgestellt will ich den Kragen. Glänzend und weiß will ich vor dem Spiegel stehen im Pelzgeschäft. Einer Schneekönigin will ich ähneln, schlank und blass, viel schlanker als ich bin und es jemals wäre.

Einpacken sollen sie mir den Pelz in eine weiße Schachtel. Einschlagen sollen sie den Pelz in raschelndes, weißes Papier. Goldfarben soll der Pelzgeschäftname auf der Tüte stehen, die ich nach Hause trage, oder vielleicht trägt ein Bote vom Pelzgeschäft mir den Pelz hinterher.

Ganz gleich will ich den Pelz anziehen bei mir zu Haus. Vor dem Spiegel will ich stehen, den halben Tag, ach: den ganzen, und drehe mich und schaue mich an und photographiere mich und den Pelz, im Gehen, im Stehen und Sitzen. Schön siehst du aus, sollst du sagen und mich alleinlassen.

Alles, was ich habe und mag, ziehe ich an unter dem Pelz. Die braunen, niedrigen Stiefel, die schwarzen, hohen. Die dreifarbigen, spitzen Schuhe und die runderen, braunen. Die schwarzen, spanischen Hosen, den glänzenden, hellen Rock vom Lieblingskostüm, mein rotes Kleid. Ein seidenes Nachthemd. An- und Ausziehen will ich den Pelz, meine Wange drücke ich gegen den Pelz, streiche mir mit dem Pelz über die Innenseiten der Arme und über den Bauch. Umkehren will ich den Pelz, das Futter nach außen, und den Pelz von oben bis unten auf der Haut spüren, so weich und glatt und leicht und seidig.

Auf dem Boden ausbreiten will ich den Pelz auf einem roten, persischen Teppich. Auf den Pelz legen will ich mich ganz und gar. Einwickeln werde ich mich in den Pelz, und die Ärmel verknoten hinter dem Rücken. In den Kragen drücke ich mein Gesicht, einatmen will ich den Duft des Pelzes, über und über umarmt will ich sein von dem Pelz und einschlafen will ich, umschlungen vom Pelz, und träumen von seinen seidigen Haaren.

Sonntag, 21. September 2008

Neues von der Unterseite

Von Freitag auf Samstag schlecht geschlafen. Ein hämmernder Kopfschmerz über dem rechten Ohr, ein Ziehen knapp über dem linken Schulterblatt und ein klammes, stumpfes Laken. Das Deckbett sonderbar schwer, als bestünde es aus irgendwas, was man sonst nicht für Betten nimmt. Unangenehm verschwommene Vision von rissigen, schwarzen Händen. Kurz aufgewacht von lautem Gelächter.

Samstag wieder daheim. Leichtes Schwanken nach der diesjährigen Woche der Schlaflosigkeit. Grundlos albern, fast Streit angefangen, und dafür im Traum zur Strafe mehrere Stunden auf einem Schemel gesessen, welcher genau in der Mitte eines großen, weißen Raumes offenbar angeschraubt worden war. Von uniformierten Streitkräften mehrfach mit einem Tau geschlagen worden und mit heftigen Schmerzen kurz unterm Nacken erwacht.

Sonntag in der Oper. Der leichte Unwille über die Verkörperung der Isolde durch eine Marilyn Manson ähnelnde Sopranistin weicht einige Stunden später mit zunehmender Schläfrigkeit einem Angstgefühl vor mageren, großen, düster blickenden Frauen, die – so erfahre ich auf bunten, wenig zusammenhängenden Wegen – etwas mit einem Verbrechen zu tun haben, dessen Verdeckung mir trotz hinhaltendem Widerstand auferlegt wird. Aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen telefonisch einen Schwan bestellt, dessen Lieferung wegen beruflicher Pflichten ab neun Uhr nicht mehr stattfand.

Zu allem Überfluss Montagnacht zwischen drei und vier von anstehendem Staatsbesuch erfahren. Verärgerung über das unprofessionelle Zeitmanagement der Verantwortlichen. Dann doch mit den Vorbereitungen begonnen und vorschriftsgemäß mehrere Dosen Ravioli geöffnet, den Inhalt sorgfältig gewaschen und die glitschigen, kalten Kissen möglichst exakt auf einer weiß-blauen Porzellanplatte angeordnet. Der König war zufrieden.

Dienstag Angst vorm Tierarzt. Tatsächlich ist der Tierarzt ein freundlicher blonder Mensch, und umso mehr erschreckt mich sein brutales Vorgehen hinsichtlich meines Katers, welcher operativ entlang der Wirbelsäule in zwei Hälften geteilt jammervoll schreiend durch einen Garten schwankt, welchen ich nach dem Erwachen als meinem toten Onkel P. gehörend identifiziere.

Am Mittwoch zu viel getrunken. Ein Glas Wein unter den Linden, zwei Drinks in der fluido bar, und trotz Solei, Wurst und ziemlich vielen Nüssen keinerlei Verlangsamung des Alkoholisierungsprozesses. Hierdurch befeuert einer knallbunten Fantasia beigewohnt und dort den E. getroffen, welcher – wie ich erfahre – schon seit Jahren nicht mehr braunäugig ist, sondern grau-grün in die Welt schaut. Aus seinen Nasenlöchern rinnt Blut.

Am Donnerstagabend drauf der Weserstraße nicht richtigerweise nach links gefolgt, sondern rechts ziemlich lange weiter gefahren. Dann doch umgekehrt, glücklich angekommen, Wein und Raclette, und daheim angenehme Bilder bunter, elastischer Blasen mit samtiger Oberfläche, die rechts und links von mir aufsteigen.

Freitag fast pünktlich im KdR eingetroffen, dann doch kurz vorm Ziel abgebogen und im Asia Bistro New Asia eingekehrt. Später am Helmholtzplatz einen Welschriesling getrunken, im Visite ma tente einen Tee bestellt, und nach dem Zubettgehen zu alledem auch noch eine sonderbare Substanz gereicht bekommen, die gar nicht schlecht roch, aber fürchterlich schmeckte. Später in eine Art Dampfbad eingedrungen, wo mehrere nackte, feucht glänzende, sehr, sehr schöne Menschen freundlich miteinander waren. Mit den anderen Anwesenden gesungen, dann aber aufgeflogen und hart angefasst vor die Tür gesetzt worden. Heftige Empfindung von Kälte und Scham.

Samstag einfach geschlafen.

Sonntag, 17. August 2008

Ein Liger für den Garten

Sehr gern, wenn es sich einrichten ließe, hätte ich auch einen Liger. In dieser Wohnung allerdings könnte ich keinen Liger halten, denn der Bewegungsdrang des Ligers überstiege meiner Wohnung Möglichkeiten, und allein ein ausreichend großzügiges Katzenklo, welches unerlässlich ist für die Haltung von Feliden, sprengte das vorhandene Raumangebot ganz und gar.

Sicherlich wäre ein Garten schön für den Liger. Gartenarbeit würde sich, nehme ich an, erübrigen, besäße ich das Tier. Einen Sandkasten würde ich aufstellen, vielleicht einen Teich graben lassen, und ein bisschen Rasen läge aus. Darauf würde der Liger sich wälzen und läge in der Sonne, vormittags etwa, oder schliefe unter den Büschen.

Unsicher bin ich mir, ob Liger klettern. Vielleicht, falls ja, läge er des Nachts auf den Ästen der Bäume und würde in die Nachtluft brüllen, wenn Liger brüllen, aber auch das weiß ich nicht genau. Bestimmt mag der Liger den Mond.

Da ich nicht viel zu Hause bin, würde ich einen zweiten Liger kaufen, damit der erste Liger sich nicht einsam fühlt. Der zweite Liger sollte eine Ligerin sein und zu zweit würden die Liger spielen, sich jagen, sich mit Tatzen hauen, wenn ihnen langweilig ist, und wenn sie schliefen, kuschelten sie sich eng zusammen, denn hier ist es kälter, stelle ich mir vor, als es Liger mögen.

Zu essen bekämen die Liger frisches Fleisch. Vielleicht würde ich bei einem Bauern Kühe abonnieren, jeden zweiten Tag eine Kuh, die lebendig gebracht würde, damit die Liger nicht erschlaffen, und von der Terrasse aus würde ich den Ligern beim Jagen zusehen. Wenn die Liger satt wären, müsste jemand kommen und die Reste der Kühe aufsammeln, denn die stelle ich mir übelriechend vor.

Grausam und blutrünstig wären die Liger zu Kühen. Sanft und anschmiegsam aber wären die Liger zu mir. Neben mir würden sie liegen und schnurren, wenn ich lese, und sich auf den Rücken legen und die Brust kraulen lassen. Die Liger würden kommen, wenn ich rufe, und wenn ich traurig wäre, würden sie mich trösten.

Theodor würde der eine Liger heißen. Und Maria der andere.

Freitag, 23. Mai 2008

In der langweiligsten Landschaft der Welt

Jemand musste uns einen falschen, vielleicht sogar arglistigen Ratschlag gegeben haben, denn einfach so wären wir niemals ausgestiegen in diesem Ort, in dem es vielleicht gar keine Menschen gab, oder nur solche, die das Haus nicht verließen. Viel zu sehen gab es freilich auch nicht, weswegen man das Haus hätte verlassen sollen, wenn man hier schon wohnte. Schnurgerade reihte sich Haus an Haus, schorfrot geziegelte Doppelhaushälften mit ordentlichen Vorgärten, in denen ab und zu ein magerer Busch stand mit dünnen, schadhaften Blättern, und manchmal nur ein paar Blumen, deren Blüten sich blass einer schwächlichen Sonne entgegenstreckten, versteckt hinter einer weißen, gleichmäßigen Decke aus Wolken und Dunst.

Das ganze Dorf, wusste ich, bestand nur aus dieser Straße, die zur Fabrik führte, aber die Fabrik konnten wir nicht sehen. Überhaupt war nichts Genaues auszumachen. Die Bewohner versteckten sich gleichgültig hinter grauen Gardinen, kein einziges Kind spielte auf der Straße, kein Auto fuhr, und es war vollkommen still. Wind würde es hier nie geben.

Unser Gepäck war im Bus geblieben und fuhr nun ohne uns dahin, wo wir eigentlich hatten hinfahren wollen. Wo das war, war mir nicht bewusst. Immerhin unsere Katzen waren bei uns, auch ein Hund begleitete uns, und so liefen wir die Straße entlang und hielten Ausschau nach jemandem, der uns helfen sollte, hier wieder wegzukommen, und zwar mit unserem Gepäck.

Später irgendwann, so erfuhren wir (von wem?), würde der Bus erneut erscheinen. Bestiegen wir ihn, so würde unser Gepäck sich schon wieder anfinden, und alles würde gut. Nur, dass die Katzen immer wegliefen, dass der Hund uns voran- und dann wieder nachlief, dass auch der J. immer wieder verschwand, verschwamm, unscharf wurde und durchsichtig sogar, verwehend über der staubigen Straße, und erst Minuten später hinter einem der Büsche oder einer zerfallenden Mauer wieder erschien, konnte unsere Abreise vielleicht noch verhindern.

Ob wir am Ende wieder abfuhren, weiß ich nicht. Nur eine Grube habe ich behalten, ein Erdloch, zwei Meter lang und tief, in der neben der Bushaltestelle ein Tiger saß, der langsam sein Junges fraß, bis nur noch der Rücken da war, und der Bauch leer und rot glänzte wie eine pralle, reife und giftige Frucht. Ganz ohne Grauen, interessiert sogar, stand ich am Grubenrand und sah dem Tiger beim Fressen zu, und dann beim verkrümmten, schnaufenden Schlaf.

Sonntag, 9. März 2008

Von fern

Ob auch, frage ich mich, eine Katze, die nie eine Maus gesehen hat, nachts von fliehenden, wuselnden, weißen Mäusen träumt? Ob ein Yorkshire Terrier mit Schleifchen im Haar träumt, wie er vor Zeiten, groß, grau und struppig, die Wälder durchstreifte? Ob auch ich, nachts, ganz selten und noch vor dem Erwachen vergessen, mit einem Schwert in der Hand, vielleicht auch nur einem roh behauenen Stein, den Feinden hinterherhetze oder selbst gejagt werde von riesigen, feuerspeienden Tieren?

Und ob vielleicht eines Tages in vielen Jahren, wenn wir selbst ein Dutzend Mal und mehr zu Staub zerfallen und aus Erde auferstanden sind, ein Anderer des Nachts an meinem Schreibtisch sitzt? Meine Furcht in seinem Nacken, es könne nicht reichen, was er da tut? Fliehend im Traum vor der verrinnenden, nicht zu stundenden Zeit, und auf dem Bildschirm vor ihm flimmern Worte in einer Sprache, die längst vergangen sein wird: Chiffren für nichts als für nächtliche Angst. Bögen und Striche. Runen, Zeichen aus Licht, Fliegenbeine, fremde, schwarze Girlanden, und zerronnen zu nichts, wenn er erwacht.

Sonntag, 1. April 2007

Die Operation

I.

Kurz vor dem Einschlafen die präzise Vorstellung eines Überfalls. Drei Männer mit pastellgrünen Handschuhen drängen mich in die rechte, hintere Ecke einer Bushaltestelle aus Plexiglas. Einer der Männer legt meinen Bauch frei und desinfiziert die Haut mit einem alkoholischen Spray. Ein anderer holt aus dem Kofferraum eines abgewrackten, dunkelblauen Golf eine Vorrichtung, die einer Autobatterie nicht unähnlich sieht. Lange Schläuche aus mattem, erdbeerfarbenen Gummi hängen von den beiden Querseiten des Geräts nach unten und schleifen über die Gehsteigplatten nach. Leiser Ärger, wozu die Desinfektion dient, wenn dann doch im Umgang mit Schmutz und Keimen eine gefährliche Lässigkeit waltet.

Der dritte Mann tritt näher, zückt ein Messer, schneidet mir mit einer einzigen, beiläufigen Bewegung den Bauch auf, ungefähr eine Handbreit über dem Nabel, und schiebt einen der Schläuche schmatzend in die unappetitliche Masse aus Blut und gelbem talgartigem Fett.

„Nicht bewegen.“, ermahnt er mich und gibt einem der anderen ein Zeichen. „Jetzt?“, fragt der und schiebt ein paar verdächtig selbstgemacht anmutende Schalter nach oben. Auf der Vorderseite des Geräts fängt es an zu blinken, gurgelnd saugt der Schlauch in meinem Bauch und reißt ganze Stücke Talg und schlabberiges, glitschiges Fett durch das Gummi in das vor Anstrengung krachende Gerät.

Nach wenigen Minuten ziehen die Männer den Schlauch aus der Wunde und laufen hastig davon. Zitternd, ein Heftpflaster in der Hand, bleibe ich an der Bushaltestelle stehen, halte mir den Bauch und versuche, mit meinem T-Shirt das restliche Blut von den Rändern der Wunde wegzuwischen.

II.


Nach kurzem, kopfschüttelnden Erwachen erneutes Versinken. Wieder an derselben Bushaltestelle, derselbe blaue Golf, eine weitere Operation mit nunmehr jedoch wesentlich verfeinerter Technik. „Narbenfreier Kreuzschnitt!“, preist der Schlauchhalter mir an, der ohnehin der Gesprächigste des ansonsten verdächtig schweigsamen Trios zu sein scheint. Tatsächlich erfolgt die Bauchöffnung diesmal reibungslos, auch tritt kaum Blut an den Rändern des Schlauchs vorbei aus. Mein T-Shirt bleibt trocken, auch die schmatzenden Geräusche sind diesmal leiser. Kaum mehr vernehmlich füllt sich das Gerät. - „Bis bald.“, klopft der Gesprächige der Drei mir am Ende freundlich blinzelnd auf die Schulter.

III.


Erneutes Erwachen mit einer gewissen Befriedigung über den Fortschritt der Technik. Mit dem rechten Zeigefinger den kreuzweisen Schnitt auf der Bauchdecke nachgezeichnet, im Anschluss hervorragend geschlafen.

Montag, 26. Februar 2007

Die gläserne Stadt

Über Nacht aber ist die Luft dichter geworden als du. Massiv drückt dir der Sauerstoff von innen und außen gegen das Fleisch und schmerzt beim Atmen, als zögest du Steine scharfkantig durch deine Lungen. Schau mich nicht an, brüllst du aus Angst den fremden Leuten in der Tram nur in Gedanken entgegen. Würdest du laut, die Fremden würden dir noch tiefer ins Fleisch starren, noch schärfere Blicke werfen, und dir die Haut zerschneiden mit der Kraft ihrer Augen. Da sitzt du dann, und die M 1 fährt dich nach Mitte.

Die Stadt scheint dir seltsam entfärbt. Jemand hat etwas aus den Gesichtern der anderen Kunden bei Dussmann entnommen. Das, was du sehen kannst, scheint dir sonderbar leer. Wie immer reichen die Fremden Bücher über die Theken und nehmen Tüten zurück, als sei das normal, aber du weißt Bescheid. - „Da wünsche ich ihnen viel Spaß beim Lesen!“, lächelt der Kassierer und macht sich Notizen. Wenn du weg bist, weißt du genau, wird er melden, was du gekauft, und wann den Laden verlassen.

An der Mittelstraße stolpert eine fremde Frau mit zerschlissenen Tüten betrunken oder behindert den Linden entgegen. Das bist ja du, erschrickst du und wechselst die Seite. Mit kaum maskiertem, gierigem Blick sieht dir die Trunkene nach. Für heute bist du entkommen. „Was haben sie mit mir vor?“, könntest du fragen, aber die Frau ist schon weg. Ganz normal, ohne Fallen und Stolpern, weißt du, schreitet die Fremde fern deiner Blicke die Straße entlang.

Wenn keiner da ist, lachst du ein bißchen, und stößt mit dem Fuß eine leere Verpackung die Straße entlang. Ob man dich prüfen will, durchblätterst du deine Gedanken. Ob die Stadt echt ist, oder eine Attrappe, und die wirkliche Stadt lebt und lächelt fernab von dir, hinter Glas, hinter Stäben, hinter einer Wand vielleicht, getrennt und unerreichbar für dich, warum auch immer.



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