Montag, 13. Juli 2009

Montagmittag

Meine Verabredung verpasst eine Bahn und lässt auf sich warten. Zehn Minuten werde es noch dauern, erfahre ich per SMS. Unter Bäumen, an der Hauswand geschützt vor kühler Luft, blättere ich ein wenig in der Zeitung, amüsiere mich über den anlaufenden Wahlkampf, überdenke meine Speisewahl dreimal hin und her, bis ich wieder beim Hühnchen bin, und trinke Tee.

Rund um mich herum wird das Wochenende ausführlich besprochen. Eine große, blonde Frau, vielleicht 25 und so dünn, wie ich so gern wäre, redet schräg vor mir einer kleinen, rundlichen Hübschen mit Grübchen und schwarzen Augen einen Mann aus. Der sei doch unf***bar, erfahre ich, und habe zudem weder Geld noch Geschmack. Die Kleine schaut ein wenig betrübt in ihr Essen. Vermutlich stapeln sich bei ihr zuhause nicht gerade die attraktiven Angebote, so dass es doppelt schade ist, wenn das, was kommt, sich in befreundeten Augen wenig ansehnlich ausnimmt.

Neben mir dagegen geht es erst um ein Konzert und dann um Peer Steinbrück. Die beiden Männer, die sich über eine Band unterhalten, die ich nicht kenne, scheinen einen Sonnebrillencontest auszufechten, bei dem es darum geht, dass der mit der größten sonnbrillenverdeckten Fläche bezogen auf das Gesamtgesicht gewinnt. Elementar, höre ich, sei die Band und das Konzert, das jene am Samstag gegeben habe. Die Parteifreunde des amtierenden Finanzministers dagegen seien - ich horche auf - Hosenscheißer, wie der Mann mit der Gewinnerbrille dem anderen mitteilt. Als das Gespräch sich dem Fußball zuwendet, verliere ich das Interesse.

Vom Tisch mir gegenüber höre ich nur Fetzen. Hier sitzen drei Frauen, erzählen sich etwas halb hinter vorgehaltener Hand und lachen ab und zu plötzlich ziemlich laut, um dann alle auf einmal wieder zu verstummen. Cremig, verstehe ich erst und dann einige Sekunden später Stachelbart. Einen konkreten Anlass zur Heiterkeit scheint es aber gar nicht zu brauchen, denn als der Kellner kommt und den drei Frauen Essen bringt, brüllen alle drei (fast identisch gekleidet mit Tuniken, bunten Leggings, Riesentüchern und Sonnenbrillen) synchron los, während der Kellner die einzelnen beladenen Teller auf den Tisch stellt.

Inzwischen bin ich ein wenig ungeduldig, schreibe E-Mails und telefoniere ein bißchen mit der B., die heute Geburtstag hat. Sie sitze bei ihren Eltern im Garten, erfahre ich. Sie esse Kuchen. Kuchen würde ich auch ganz gern essen, zumindest würde ich irgendetwas gern essen, denn gefrühstückt habe ich nicht und das Abendessen ist sechzehn Stunden her. Damit es ein wenig schneller geht, bestelle ich schon einmal für mich und außerdem das, was meine Verabredung eigentlich immer isst, schaue noch ein bißchen ungeduldiger auf mein Telephon, weil ich sonst keine Uhr dabeihabe, und klopfe schon fast vor Unruhe auf den Tisch, als fast gleichzeitig das Essen und meine Verabredung erscheinen.

"Hey!", sage ich und greife nach meinen Stäbchen. "Wie war dein Wochenende?"

Sonntag, 12. Juli 2009

Auf einem Boot nach Westen

Heute nacht am Lido ein Boot bestiegen, und der Himmel war so gläsern und rein wie heute morgen früh um fünf auf dem Weg nach Haus. Die Glocken läuteten mir zur Abfahrt von einem der Campanile, und mit einem Ruck bäumte das Boot sich auf und schoss an Chioggia vorbei, der Adria entgegen. Vielleicht fuhr ich heute nacht auf das offene Meer.

Feingliedrig war der Fährmann, hübsch und schön, und stand mit freiem Oberkörper am Steuer, umweht von spritzendem Wasser und Salz. Hinter dem Fährmann saß ich mit untergeschlagenen Beinen, und mit mir noch andere, drei oder vier, die raunten sich leise etwas zu, was ich nicht verstand. Die anderen Reisenden, fiel mir auf, wirkten bedrückt.

Unsinnig fröhlich war dafür ich, zog mich übermütig an den Planken des Bootes hoch und hielt meine Hand in die Gischt. Aus Trotz jubelte ich die anderen an, die dicht gedrängt nebeneinander mehr lagen als saßen. Sie wirkten löcherig, durchscheinend irgendwie und ein wenig faulstichig und braun. Verärgert wand ich mich ab.

Neben dem Fährmann stand ich dann einige Zeit, sah der Sonne entgegen und blinzelte in das strahlende, weiße Licht. Das Salz bildete Krusten auf meinen Füßen, die Sonne wurde heißer, kam näher, und leckte mit hitzigen Zungen mir über die Haut. Ganz nahe waren wir schon am Ziel, immer aufgeregter wurde ich und winkte dem Ufer zu, an dem ein paar Männer in hellen, sommerlichen Anzüge standen und auf die Uhr sahen, als sei das Boot schon zu spät.

Man reichte mir ein Glas, als ich ankam, aus dem ich durstig trank. Man warf mir eine Art Tunika über, denn ich war (das war mir entgangen) nackt. Schließlich geleitete man mich den Strand hinauf bis zu Bäumen, in deren Schatten ich bleiben würde, vorerst, umweht von Kühle, umgeben von rankendem Grün, Moos und rauschenden Blättern am Ende der See.

Donnerstag, 9. Juli 2009

Begegnung auf der Straße

Ich erkenne ihn von weitem. Besser sieht er heute aus als mit 18, als er allzu dünn war und ein bißchen hektisch. Schlank ist er noch immer. Auch sein Haar ist noch voll. Er trägt noch immer dieselbe Frisur wie 1995: Das blonde Deckhaar lang über dem kurz geschorenen Nacken.

"Du hast dich kaum verändert.", sage ich, als er vor mir steht. Er wehrt mit der Hand ab, klopft sich auf den Bauch, lobt meine Kleidung (aber nicht mich) und fährt sich mit der selben Bewegung wie vor fast 15 Jahren durchs Haar.

Er ist nur für ein paar Tage in Berlin, beruflich. Gerade kommt er von einem Meeting, jetzt will er zur C⎮O Galerie im Postfuhramt. "Wie geht es dir? Was machst du?", frage ich, und er erzählt von der Consultancy. Fünf Jahre sei er jetzt da. Länger als üblich. "Nicht so besonders originell.", entschuldigt er sich und lacht. Er hat recht: Meine halbe Abschlussklasse war oder ist Berater.

"Erzähl mal was von dir.", fordert er mich auf, und ich überlege. Viel gibt es da nicht zu berichten. Mein Job. Meine Wohnung im Prenzlauer Berg, Freunde, die auch viel arbeiten, und wenn wir es schaffen, sitzen wir irgendwo herum und essen und trinken Wein. Ab und zu gehe ich gern irgendwohin. Ansonsten keine Hobbies, keine Kinder. Zwei Katzen. Ein Freund. Er lacht. Wir mochten uns ganz gern, damals, erinnere ich mich und überlege, mit wem er befreundet war. Im Latein-Leistungskurs saß er schräg hinter mir. Ich glaube, wir haben uns auf dem 18. Geburtstag meines Freundes T. geküsst, damals, als man sich noch küsste, wenn man auf Parties ging.

"Bist du glücklich geworden?", fragt er auf einmal und unterbricht meine Überlegung. Ich bin überrascht. Als ein wenig peinlich empfinde ich diese Frage. Als ein bißchen zu pathetisch, ein wenig zu persönlich dazu. Woher soll ich das wissen, schießt es mir durch den Kopf. Keine Ahnung, hätte ich fast gesagt. Ich habe lange nicht gefragt. "Gut geht es mir.", sage ich daher und lächele so breit, wie ich es aus dem Stand hinbekomme. Das stimmt, wie ich weiß.

Aber es ist nicht dasselbe.

Montag, 6. Juli 2009

Alles anders

Wäre ich (und auch das wäre denkbar) etwa jemand, der etwas anderes könnte, als das, was ich kann, dann wäre ich jetzt nicht daheim. Ich würde nicht am Schreibtisch sitzen, gerade um kurz vor zwölf von der Arbeit heimgekehrt, sondern säße vielleicht irgendwo am Wasser auf einem Stein. Die Beine würde ich in einen See tauchen. Ich hätte einen Badeanzug an, in dem ich großartig aussehen würde, denn fabelhaft schlank wäre ich natürlich auch.

Ich hätte eine Gitarre bei mir, denn ich wäre gern ein wenig musikalisch. Ich würde singen, denn auch das könnte ich gern. Rund um den See stünden schwarz die Bäume, niemand wäre am See außer mir, und wenn ich singe, wenn ich die richtigen Worte finde, die richtigen Töne in der richtigen Reihenfolge, löste sich aus den Wassern, aus dem Wald und der Nacht die Seele des Sommers, drängte sich mir eng an die Seiten und sänge mit mir bis morgen früh und weiter, und der große Pan selbst bliese die Flöte, bekränzt mit Löwenzahn, Mohn und Rosen, ja: Rosen.

Sonntag, 5. Juli 2009

Die Last der Geschichte

Dass die Deutschen mit ihrer Vergangenheit im Reinen sind, glaube ich erst, wenn sich Szenen wie gestern nicht wiederholen: Der J. und ich stehen also im KaDeWe. Eigentlich sind wir hier auf der Suche nach einer göttlichen Tasche namens BL0494, aber die ist nicht mehr zu haben. Leicht belämmert (ach, hätte ich doch in Stockholm zugeschlagen) schleppen wir uns durch das überfüllte Haus auf der Suche nach anderen Waren, die den weiten Weg durch die völlig verstopfte Stadt nicht als vergeudet erscheinen lassen, und stehen wenige Minuten später im ersten Stock. Hier gibt es Herrenoberbekleidung.

Der J. ist in dieser Hinsicht nicht gerade das gleichgültigste Wesen der Welt. Wer elf Anzüge nicht nur besitzt, sondern gleichsam liebt, und die Vorzüge wie Nachteile aller gängigen Herrenausstatter sogar nachts aus dem Schlaf gerissen repetieren könnte, ist im KaDeWe Schlussverkauf je nach Perspektive entweder genau richtig oder hoffnungslos verloren. Wir stehen also sehr, sehr lange dort, wo es Kleidungsstücke von HUGO gibt, und der J. zieht langsam und mit maximaler Aufmerksamkeit einen Anzug nach dem anderen an und dreht sich in kleinen, eleganten Schwüngen vor dem Spiegel. Leider ist keiner der Anzüge perfekt.

An einer weiteren Stange hängen Mäntel und der J. zieht alle an. Ein beigefarbener Sommermantel ist nicht mehr in Größe 50 zu haben. Ein dunkler Mantel sieht zwar gut aus, passt aber nicht über eine Anzugjacke und scheidet deswegen aus. Ein weiterer, ebenfalls dunkler Mantel aber sitzt. Er sitzt sogar gut. Für einen Moment sehr zufrieden mit sich und der Welt steht der J. vor dem Spiegel und zupft den Mantel zurecht.

Dann aber holt die deutsche Vergangenheit den J. ein. In seinen Mundwinkeln beginnt es zu arbeiten, um seine Augen tritt ein besorgter, leicht gespannter Zug. Der geschätzte Gefährte dreht sich um. Ob ich nicht auch finde, dass der Mantel - wie solle er es sagen: Der Mantel erinnere ihn an eine Uniform. An eine schwarze Uniform, an eine Uniform aus alten Filmen. Die Schulterklappen des Mantels etwa. Das abgesetzte Stück Stoff, das von den Schultern vorn und hinten bis auf Brusthöhe fällt und mit einem Knopf fixiert werden kann wie ein Cape. Der ganze Schnitt des Mantels sei so absolut Leni Riefenstahl. "Vielleicht ist das wieder modern.", gebe ich zu bedenken und wende mich ab. Ich will noch in die Abteilung mit den Sachen für mich. Der J. soll den Mantel kaufen oder weghängen.

Für einen Moment schwankt der J., den Mantel unschlüssig in der Hand. Dann zieht der J. den Mantel wieder aus. Unmöglich könne er einen Mantel tragen, in dem er nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen Leute an einen preußisch schnarrenden SS-Offizier erinnere. Ein einziger Witz gleichgültiger Passanten, und er müsse den Mantel auf der Stelle ausziehen und verbrennen oder zöge ihn zumindest nie wieder an. Zwar sehe der Mantel großartig an ihm aus, wie für ihn geschaffen sozusagen (der J. seufzt), aber die Assoziation, welche dem Mantel anhaftet, sei zu viel für ihn als Mantelträger, und so bleibt der Mantel im KaDeWe.

Auf dem Weg in die Damenabteilung kommen wir bei Karl Lagerfeld vorbei. Auch hier hängt ein ganz ähnlicher Mantel. Die deutschen Designer, stellt der J. fest, würden von der deutschen Vergangenheit auf unselige Weise ästhetisch heimgesucht. Aber er werde sich dem verweigern. Die Deutschen, zumindest der J., stelle ich fest, sind mit schwarzen Unifornmänteln für dieses und das nächste Jahrhundert erst einmal durch.

Ohne Mantel, mit nichts als einer französischen Bluse in einem grau abgetönten Lavendel, verlassen wir den Kurfürstendamm.



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