Über Liebe

Sonntag, 7. Oktober 2007

Die Motivation

Die eine, hört man, hat ihren Freund verabschiedet, weil er sie nicht heiraten wollte. Die andere, weil der ihre so unappetitlich aß. Eine andere hat die Trennung ausgesprochen, weil ihr Liebhaber so selten Zeit für sie hatte, seit er Vater eines Kindes geworden war, dessen Mutter beruflich viel eingespannt gewesen sein soll. Die Trennung meiner lieben Freundin, der X., von ihrem Liebhaber jedoch ist einzigartig bezüglich ihrer Motivationslage, und verdient eine ausführliche, öffentliche Würdigung ob ihrer Originalität. Sie spielte sich nämlich folgendermaßen ab:

Eines Tages, die X. und ihr Liebhaber lagen zu Bett, wurde es ihr langweilig. Langeweile, auch in Gegenwart geliebter Personen, kennt jeder. In Gegenwart von nicht direkt geliebten, wenngleich intim verbundenen Personen, scheint die Langeweile noch etwas häufiger aufzutreten, und so setzte sich die X. auf, verließ das Bett und setzte sich an ihren Rechner.

Neue E-Mails waren keine eingegangen. Auch mit anderen Neuigkeiten sah es schlecht aus, und so schwang sich die X. einfach so von Homepage zu Homepage, las hier ein wenig, und dort ein bißchen, und ihr Liebhaber lag herum und las.

„Was tust du?“, fragte er wohl, und die X. murmelte etwas von „Nachrichten“. „Lass mich mal schauen, was meine Frau macht.“, erscholl es plötzlich aus dem Bett. „Muss nicht sein.“, gähnte die X. „Ach komm, eine Minute.“, schwang sich der Liebhaber aus dem Bett und stand auf einmal neben ihr.

Die - der X. unbekannte - Frau des Liebhabers nämlich hatte kurze Zeit zuvor ein Preisausschreiben gewonnen. Der Preis bestand aus einer Kurzreise, einer Promotion-Tour des veranstaltenden Unternehmens , bei der die Gewinnerinnen – jeweils in Begleitung einer Freundin – auf eine Insel eingeladen wurden. Ihr Tun und Treiben dort wurde live, oder zumindest unwesentlich zeitversetzt, im Internet übertragen, und so konnte man die Frau des Liebhabers sehen, wie sie es sich begleitet von einer reichlich ordinären Freundin lautstark gutgehen ließ.

„Modeste, ich bin fast umgefallen.“, stöhnte die X. Die Frau des Liebhabers nämlich war von erschreckender Beschaffenheit. Groß und massiv wie ein deutsches Mittelgebirge ragte die Frau in den Bildschirm und jodelte ihre Lebensfreude in ungebremster Vulgarität durch das Netz. Ob die Person auf den bewegten Bildern nun die Frau des Liebhabers oder nicht doch sein Bruder sein sollte, war tatsächlich ausschließlich anhand der Ausführungen des Liebhabers auszumachen, der schließlich wissen musste, wen er einmal geheiratet hatte.

Sprachlos saß die X. vor ihrem Rechner. In ihrem Inneren zog sich alles zusammen. Mit Befremden erst, dann auch mit Ekel betrachtete sie den Mann in ihrem Schlafzimmer, der zufrieden ein Bild nach dem anderen per Mausklick vergrößerte. Schelchte Haut hatte die fremde Frau auch.

So also, dachte die X. und betrachtete ihren Liebhaber: So also sah die Frau aus, die dieser Mann geheiratet hatte. Kein Wunder, dass es ihn in andere Schlafzimmer zog. Wahrscheinlich, so erschien es ihr, war es überhaupt nur die Tatsache, dass andere Frauen sich zumindest kurzzeitig seiner erbarmten, die eine Ehe mit dieser ganz und gar unmöglichen Person stabilisierte. Sie, wurde ihr klar, war also dafür verantwortlich, dass dieser Mann mit dieser Frau verheiratet war.

Abscheu ergriff sie. „Kein Wunder, dass du herkommst, wenn das deine Frau ist.“, sagte sie, und der Liebhaber schaute sie erstaunt an. Er liebe doch nur sie, wandte er ein. „Das wundert mich nicht.“, schüttelte sich die X. mit einem Blick auf das unglaubliche Geschöpf auf den Bildern im Netz.

„Nun komm schon.“, zog sie der Liebhaber am Arm zu ihrer Bettstatt. „Lass mich los.“, entzog sie sich seinem Griff. Völlig unmöglich erschien es ihr auf einmal, diesen Mann zu berühren. Den Mann einer solchen Person – es würgte sie ein bißchen.

„Fahr nach Hause.“, dachte sie erst, und dann hörte sie sich laut sagen, dass er seine Sachen packen, sich anziehen und verschwinden solle. - „Was ist denn los mit dir?“, wunderte sich der Liebhaber erst, dann regte er sich ein bißchen auf, wurde traurig, winselte, und am Ende ging er doch.

Die X. werde, sagt sie, ihn nicht wieder anrufen.

Sonntag, 5. August 2007

Madeleine

Eine Madeleine in Lindenblütentee, nein: eine Plastiktüte, gepackt von der Küche des Hotels, gefüllt mit Früchten und dick belegten, weißen Semmeln. 2007 haben wir, der Zug fährt mich von Karlsbad nach Usti nad Labem, und fährt doch rückwärts, fällt von diesem Jahr in ein anderes, früheres, und 1989 sitze ich in einem anderen Zug, zwischen anderen Städten, und nicht allein sitze ich in dem Abteil auf rotem, etwas abgeriebenem Cord. Neben mir liegt nicht eine Plastiktüte, sondern ein grüner Rucksack, mit Edding haben längst versunkene Schulfreunde ihre ungelenken Namenszüge auf den Kunststoff geschrieben, aber der Geruch, dieser Geruch von warmen, atmenden Früchten und belegtem Brot steigt hier wie dort aus den offenen Taschen zu mir auf.

Kühl und blau zieht Böhmen an mir vorbei. Kleine Städte, gesäumt mit den Resten verfallender Fabriken, rostendes Metall. Melancholie einer verwesenden Moderne, und ein paar gellgeschminkte Frauen am Gleis mit billigen Kopien von Taschen, deren Original man hier nicht einmal kaufen kann, so weit weg ist der Wohlstand, der kommen sollte, und nicht gekommen ist. - „Ihr Fahrschein, bitte.“, streckt die blauuniformierte Schaffnerin mir ihre Hand entgegen.

Einen eigenen Fahrschein brauche ich nicht, 1989, denn nicht ich, sondern Frau S., die Chorleiterin, kramt in ihrer riesigen, schwarzen Handtasche nach dem Gruppenfahrschein für uns alle. Ich sitze ihr gegenüber. Frau S. mag mich nicht, und nicht ihretwegen habe ich mich als letzte in das Abteil gedrängt, aber der G., der lange, hochaufgeschossene G., der ebenso gut singen wie rudern kann, sitzt ihr gegenüber und spricht über Händel und Brahms. Halblaut beugt er sich weit nach vorn, spricht knapp und konzentriert mit einer Gemessenheit, die seinen siebzehn Jahren voraus zu sein scheint, und die ihn selten verlässt. Nicht an mich wendet er sich. Mich kennt er nur als die Freundin der N., die als verrückt gilt, als schön, obwohl keiner sagen kann, was eigentlich das Schöne an ihr ausmacht, und als so hemmungslos, das niemand zu wissen glaubt, was sie in fünf Minuten oder in fünf Jahren zu sagen oder zu tun beliebt. Sehr höflich und freundlich ist der G. zu mir. Immerhin bin ich die beste Freundin des Mädchens, das er vergeblich liebt, und dass die N. ihn auslacht, nimmt er weder ihr noch mir, der widerwillig Mitlachenden, übel.

Dass sich niemand in mich verlieben wird, wenn die N. daneben sitzt, ist so selbstverständlich, dass ich es nicht einmal bedaure. Keine Sekunde nehme ich an, der G. sei auch für mich zu haben, und so laufe ich ihm hoffnungslos hinterher, unauffällig, halte Abstand und schielen nur ein bißchen, nur so aus den Augenwinkeln, wenn er in einer Gruppe auf einer Party steht, am Rande des Chorraumes mit den anderen guten Sängern über Chorwerke spricht, und melde mich nicht einmal, als er einmal in der Pause ins Blaue fragt, ob jemand mitkäme zu Schönbergs Lulu in der dreißig Kilometer entfernten Stadt, denn nicht ich bin es, auf dessen Begleitung er hofft.

Zu schöngeistig sei ihr der G., lacht die N. und küsst statt seiner viele andere. Ein Tenor sei kein Mann, sagt sie so laut, dass er es hören muss, und aufschaut, errötend und betroffen. Tenor bleibt er trotzdem, einer der besten Sänger des Chores, dem ich keine Zierde bin, und auch die N. singt weiter ihren etwas gläsernen Sopran.

Auf dieser Zugfahrt aber ist sie nicht dabei. Ihr Vater hat sie zwei Wochen vor den Ferien vom Unterricht befreien lassen, um mit ihr und ihrer kleinen Schwester in Urlaub zu fahren. Etwas verloren fühle ich mich, ein wenig einsam ohne beste Freundin, und plaudere tapfer vor mich hin. Seitlich, fast schon außerhalb meines Gesichtsfeldes aber, geht der G. zum Waggon, unterhält sich mit Frau S., die er weit überragt, und streicht sich ab und zu die Haare aus der Stirn. In einigen Metern Abstand folge ich.

„Ist hier noch frei?“, höre ich mich auf den letzten Platz im Abteil deuten, und Frau S. nickt kühl und ein wenig abwesend. Ich bin keiner ihrer Lieblinge. Sie schätzt nur die Jungen, unter ihnen nur die hochaufgeschossenen, schlanken Oberstufenschüler, und von diesen wiederum nur diejenigen, die gut singen und mindestens zwei Instrumente beherrschen.

Die Fahrt dauert lange. 2007 ist es wieder, zu meiner Rechten fließt die Elbe, und bei Bad Schandau kommt ein schwitzender, riechender Beamter durchs Abteil und fragt nach meinem Ausweis. Lange schaut er erst mich und dann mein Photo an. „Ist gut.“, sagt er, und verschwindet. Ich bin müde.

Müde bin ich auch damals, im vollen, heißen Abteil, und kaue schläfrig einen Apfel. Die anderen Chorsänger schlafen bereits. Frau S. lächelt im Schlaf ein wenig, lehnt sich sogar leicht an den G., der aus dem Fenster schaut, als sei Frau S. nicht da, und auch sonst niemand anders. Schließlich schläft auch er.

Seine Beine sind zu lang für das enge Abteil, und im Schlaf streckt er die Füße weit von sich, bis herüber auf die andere Seite. Nur ein paar Zentimeter von meinen Schuhen entfernt, zucken die Beine des G. ab und zu im Traum, und langsam, sehr, sehr langsam, strecke auch ich meine Beine, nähere mich und schiebe meinen rechten Fuß eng an den Turnschuh des G. Die Augen habe ich geschlossen, denn unabsichtlich soll die Berührung wirken, erwacht einer der Schläfer. Ich zittere, mein Puls schlägt hart und metallisch in meinen Ohren eine hastige Polka, und zehn, zwanzig Minuten, vielleicht länger, sitze ich da, jede Faser angespannt bis aufs Äußerste, und spüre dem leichten Druck und der Wärme seines Fußes nach.

Es ist nichts geworden mit der N. und dem G., und mit mir und dem G. auch nicht. Die Frau S. ist heute Rentnerin, den Chor habe ich beizeiten verlassen, aber der dumpf-säuerliche Dunst von Obst und Broten riecht noch ebenso wie einst, denn nur einige Dinge ändern sich, und viele andere bleiben so, wie sie immer waren.

Sonntag, 4. März 2007

Du und ich im Garten Eden

Nach dem Mittag werde ich ein bißchen schlafen, und du schläfst neben mir. Ein alter Mann wirst du sein, mit hängenden Backen und schlaffer Haut. Vielleicht wirst du schnarchen. „Mein Guter, mein Bester“, werde ich dir am Bart zupfen, damit du aufwachst, und du wirst lächeln, als sei ich noch jung. Vielleicht siehst du mich dann manchmal so, wie ich einmal war, du alter Mann ohne Brille in der Nachmittagsdämmerung um vier.

Bevor es dunkel wird, willst du in den Garten. Du harkst die Blätter von den Beeten, und freust dich über die Knospen und Triebe der Büsche und Stauden. Die zeigst du mir und stützt deine Hände auf die Knie, wenn du dich wieder aufrichtest. Du bist zu schwer geworden für deine Muskeln und Gelenke.

Mit einem sehr, sehr alten Hund sitze ich im Wintergarten und schaue dir zu. Von hinten siehst du manchmal aus wie der junge Mann, den ich vor fünfzig Jahren im ersten Semester kennengelernt habe, und ich lächele bei der Erinnerung an den Abend, als dein Freund H. mich zu dir brachte, weil er meine Freundin kennenlernen wollte. Daran erinnere ich mich gut. Die Feuerzangenbowle. Deine Gitarre, das eiskalte Bad, und die braune Couch, mit der du bis Berlin umgezogen bist.

An das, was gestern, vorgestern oder letztes Jahr passiert ist, erinnere ich mich nicht mehr. Vielleicht hat mein Gehirn schon ein paar Löcher, ein bißchen Zeitmottenfraß, ein bißchen mürben, braunen Verfall. Vielleicht lohnt sich das Behalten aber auch nur nicht, weil gestern, vorgestern, letztes Jahr, wenig passiert ist, was ich aufheben will. Wenn du im Garten die Beete harkst, erzähle ich die alten Geschichten dem Hund. Was alles passiert ist, und der Hund gähnt.

Dass wir Königskinder waren, leuchtend in den Nächten der Stadt, flüstere ich dem Hund in die Ohren. Die Kälte und der gleißende Dreck und die großen Zeiten unter dem Rad. Unsere blutende Haut in Fetzen, aber wenn ich zu lange erzähle, steht der Hund auf und trinkt ein bißchen Wasser.

Wenn es dunkel wird, kommst du ins Haus. Die Schuhe stellst du neben die Terrassentür und wäschst dir lange die Hände, die sich langsam ausbeulen. Knoten an den Gelenken hast du, als würden deine Knochen langsam weich und schöben sich hin und her. Ab und zu, wenn wir beisammen sitzen, streichele ich dir über die Hände und ängstige mich vor dem ersten Morgen ohne dich.

Tee werde ich kochen und Kuchen schneiden, den ich selbst gebacken habe. Vielleicht schlage ich Sahne. Du deckst den Tisch und wirst den Kuchen loben. „Meine Liebe, meine Schöne.“, wirst du mich nennen, als sei das noch wahr, und vielleicht küssen wir uns sogar noch, wenn keiner hinsieht. Auch nicht der Hund.

Vielleicht gehen wir später spazieren, zwei sehr alte Leute, langsam, die Straße entlang, wo es gut beleuchtet ist und die Wege glatt. Vielleicht koche ich abends Früchtetee und schmiere Brote, weil du das selbst nicht mehr gut kannst. Du wirst Witze machen, als nähmest du das leicht.

Am Abend gehen wir zu Bett. Ich werde mich nicht mehr ausziehen vor dir, und nur noch selten in den Spiegel schauen, wenn ich mich umziehe, um die alte Frau nicht zu sehen mit dem fleckigen, bleichen Fleisch voller Dellen. Im Nachthemd lege ich mich zu dir ins Bett, denn du bist warm, und ich friere jede Stunde, jede Nacht und überhaupt immer.

Nachts höre ich dir zu. Die Dämonen sind tot, weiß ich, und kann doch nicht schlafen. Sanft streiche ich dir übers Haar, dass du nicht erwachst, und halte manchmal besorgt meine Hand vor dein Gesicht, und atme auf, wenn du noch atmest.

Donnerstag, 21. Dezember 2006

Alte Beschwörung. Bann.

Am Ufer nimmt die Nacht dich auf, die Stimmen werden leiser, und nur Carla Bruni singt von der Liebe oder von etwas, was der Liebe manchmal täuschend ähnlich sieht. Westlich der Oberbaumbrücke glänzt die Stadt dir etwas vor, und auf einmal spürst du die rauhe, warme Hand der Müdigkeit auf deinen Lidern.

Komm heim, zieht dich deine warme Wohnung nach Norden, und du lächelst über die Kinder an der Haltestelle, die sich Bier trinkend an den Händen halten und etwas singen, was du nicht verstehst mit der Musik in den Ohren. Vielleicht sind die Kinder nur drei, vier Jahre jünger als du, überlegst du und versuchst, nicht allzu auffällig hinzuschauen und bist ein bißchen traurig, weil das nun vorbei ist und nicht wiederkommt. Keiner wird dich mehr so durch die Luft schwenken, fällt dir ein, als ein Junge ein Mädchen an beiden ausgestreckten Armen um sich herumwirbelt, dass ihre Haare fliegen.

Daheim ist es warm, wünscht du dich die paar Kilometer weiter, wo Licht brennt und jemand auf dich wartet, und schaust doch den Kindern an der Haltestelle nach, die nicht in diese Bahn steigen und stehen bleiben, als du fährst. Ach, und für einen Moment stellst du dir vor, auch du würdest irgendwohin fahren, wo alles anders ist als hier, wo man auch dich herumschwenken würde, dass deine Haare fliegen, wo dein Leben leuchten würde vor Feuer und Kristall, und wo die Stadt glänzt von lauter frischem, grellen Blut auf ihren Straßen.

Donnerstag, 14. Dezember 2006

Normalverteilung

Auch nie verstanden habe ich ja die rein mathematische Seite des Liebeslebens, die Frage der Verteilung nämlich, mit der es sich folgendermaßen verhält:

Jeder alleinstehende Deutsche verliebt sich ungefähr zweimal jährlich. Rechnen wir das immerhin ausbaufähige Interesse dazu, so kommen wir auf drei verschiedene Personen, auf die sich Hoffnungen richten. Fragen wie „Wer war eigentlich der Typ, der....“, oder „Kennst du den X., der immer kommt, wenn...“, werden gestellt, und auffallend häufig wird von X oder Y gesprochen. Es wäre ganz nett, so gibt die betroffene Person meistens nach einiger Zeit zu, wenn X oder Y einfach mal anriefe. Die interessierende Person indes ignoriert die Versuche, möglichst zufällig miteinander auszugehen, so hartnäckig, dass selbst gute Freundinnen empfehlen, den Betreffenden einfach zu vergessen.

So weit, so gut. Alle alleinstehenden Leute, die ich so gut kenne, dass sie mir derlei Dinge mitteilen, verlieben sich also zwei- bis dreimal jährlich. Gehen wir also davon aus, dass das bei allen Leuten so ist, so müsste sich doch rein rechnerisch auch in jeden – abgesehen von sehr unvermittelbaren Fällen – alleinstehenden Deutschen auch zwei bis drei Personen pro Jahr verlieben? Und selbst wenn man einen großzügigen Faktor von 50 % Abweichung aufgrund differenzierter Attraktivität einbezieht, so kommt immer noch 1,5 Verliebter auf jeden Single, und auf manche eben 4. Da wir besonders schöne und besonders abstoßende Menschen bei dieser Berechnung aus Vereinfachungsgründen einfach weggelassen haben, gleichen sich Models und Monstren gegenseitig aus und tauchen in unserer Alltagsbetrachtung gar nicht auf.

Nun indes zeigt das Leben uns einen sonderbar gewachsenen Pferdefuß, denn beileibe nicht alle Personen, die ich kenne, stoßen in diesem Umfange auch auf Anklang, ohne dabei hässlich, sonderbar oder mit anderen Ausschlussmerkmalen behaftet zu sein. Statt dessen schwören die meisten mir bekannten Alleinstehenden Stein und Bein, exakt niemand habe sich 2006 in sie verliebt, null Liebesbriefe inklusive elektronischer Mitteilungen seien eingegangen, und keine Seele sei ihnen in physischer Hinsicht nachgelaufen.

Da bleiben wenig logische Schlüsse, die mit unseren zuvor eingeführten Axiomen vereinbar wären. Entweder ist die Verteilung noch schlechter als der bisher angenommene Attraktivitäts-Ausgleichsfaktor von 50 %, und nahezu alle Leute verlieben sich in bildschöne, perfekte Geschöpfe, denen nicht – wir erinnern uns - vier, sondern 44 Anbeter anhaften. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Alterung der mich umgebenden Menschen, die das dreißigste Lebensjahr unterdessen so gut wie alle überschritten haben, und mögicherweise der männlichen Vorliebe für zweiundzwanzigjährige Studentinnen beim ersten Betriebspraktikum zum Opfer fallen. Indes war auch mit 22 die Bewerbersituation überschaubar, und denn Männern scheint es nicht anders zu gehen.

Oder die Welt besteht aus heimlich Verliebten die sich gegenseitig ängstlich, gespannt, aber schweigend umkreisen, kein Wort dabei sagen, und irgendwann erschöpft aufhören, verliebt zu sein, weil der andere sie nicht von selbst erhört, was als Alternative weniger deprimierend wäre, aber gleichfalls nicht eben wahrscheinlich.

Dienstag, 28. November 2006

Das fast gemeine Fräulein M.

„Der steht total auf dich!“, versichert die blonde Freundin ihrer dunkelhaarigen Begleitung am Nachbartisch im 103. „Und warum ruft er dann nicht an?“, fragt die mit den langen, dunklen Haaren ihre blonde Freundin nach den Beweggründen eines gewissen Florian und rührt mit einem langstieligen Löffel in einem Glas frischen Pfefferminztees, als ginge es darum, die schwimmenden sattgrünen Blätter möglichst klein zu hacken. „Der ist total schüchtern.“, behauptet die Blonde und zieht das „a“ bei „total“ ganz, ganz lang. „totaaaaal“, sagt sie, so ein bißchen nasal.

Der anrufverweigernde Florian traue sich einfach nicht heran an eine so starke Frau wie die dunkelhaarige, erklärt die Blonde die Psyche des unbekannten Florian ihrer Nachbarin und greift sich energisch in die dünnen Haare. Florian, der irgendwo auflegt, markiere zwar die coole Sau, aber das sei alles nur Fassade. Florian müsse deswegen ermutigt werden, ordnet sie an. Ihre Freundin nickt.

Einfach anrufen ginge aber nicht, denn die Dunkle, die anscheinend Nicki heißt, hat Florian offenbar schon einmal angerufen. Ziemlich wortkarg sei er am Telephon gewesen, berichtet die Dunkle und spielt mit einem riesengroßen Plastikring. „Klar!“, nickt die Blonde, als habe sie genau das erwartet. Der Anruf der Dunkelhaarigen habe Florian so aus dem Konzept gebracht, dass er gar nichts hätte sagen können. Deswegen riefe er jetzt auch nicht an, erläutert sie weiter. Florian hege Versagensängste und hätte die Befürchtung, einer so tollen Frau wie der Nicki nichts zu sagen zu haben.

Leicht mokant, mit der winzigen Hebung der linken Augenbraue, die ich nie beherrschen werde, nimmt meine Begleitung die Ausführungen am Nachbartisch zur Kenntnis. „Oh mein Gott.“, murmele ich, nehmen einen tiefen Schluck aus meinem Glas heißer Zitrone, und hole tief Luft.

„Geht’s euch noch gut?“, überlege ich einen kurzen Moment meine Nachbarin einmal laut anzusprechen. „Florian wird überhaupt nie anrufen.“, würde ich fortfahren. „Florian hat einfach kein Interesse an dir, denn jenseits des zwanzigsten Lebensjahres pflegen nur noch diejenigen Menschen heimlich verliebt zu sein, die guten Grund zu der Annahme haben, ein Geständnis ihrer Gefühle werde vom Adressaten als lästig empfunden. Wer interessiert ist, dem merkt man das auch an.“

Wenn ich schon so schön in Fahrt wäre, würde ich natürlich gleich weitermachen: „Florian, wer auch immer das ist, hat auch keine Angst vor starken Frauen, sondern höchstens eine Antipathie gegen dicke Frauen, und dick ist für den durchschnittlichen Berliner DJ jede Frau, die mehr als 45 Kilo auf die Waage bringt. Florian hat vermutlich auch kein Faible für Frauen über dreißig, nicht mal dann, wenn sie sich benehmen, als seien sie zwölf.“

Statt dessen trinke ich weiter. Die beiden Frauen zahlen und gehen, und in der Tür dreht sich die Dunkelhaarige noch einmal um. Sehr alt sieht sie in diesem Moment aus. Noch sieht man die Falten neben ihrem Mund nicht so genau, und nicht die hängenden Wangen. Man ahnt ein bißchen, wo die Markierungen einmal sein werden in nicht mehr ganz so vielen Jahren.

Unseren täglichen Selbstbetrug gib uns heute, murmelt es halb amüsiert, halb sarkastisch neben mir, und ich schwöre mir, so ehrlich wie möglich zu sein, wenn es einmal so weit ist, und fürchte, dass mehr Ehrlichkeit den beiden Frauen nicht möglich ist, die jetzt an den Fenstern der Bar vorbeigehen, die Kastanienallee hoch, und sich freundlich anlügen, weil das Leben kalt und grau und nicht auszuhalten ist, wenn Florian nicht anruft, und auch keiner sonst.

Montag, 6. November 2006

All die Asche unserer Herzen

Es sei ihr im Alter nicht mehr gut gegangen, sagt mein Gegenüber und schiebt mit zwei Fingern das obere Ende der Kerze zusammen, so dass die Flamme fast verlischt. Sie sei immer still gewesen, so dass nicht einmal sein Vater als ihr einziger Sohn bemerkt hätte, wie im Kopf der Großmutter die Lichter ausgingen, und sie nicht nur wenig sprach, sondern wenig dachte oder zumindest etwas ganz anderes als alle anderen Leute, und es irgendwann nicht einmal mehr zum Zubinden der Schuhe reichte oder zum Kartoffeln Kochen.

Ins Heim hätte die Großmutter zu allem Überfluss fast gemusst, die schon ein schweres Leben gehabt habe, und der am Ende um ein Haar auch dies nicht erspart geblieben wäre. Immer hätte die Großmutter Angst gehabt vor dem Heim, noch mehr als andere Leute hätte sie sich gefürchtet, denn als Kind, als kleines Mädchen, hätte die Großmutter im Heim gelebt, wo sie als uneheliches Kind eines Dienstmädchens abgegeben worden sei, als ihre Mutter starb. Dort hätten sie ihr die Haare abgeschnitten, und einen grauen Kittel hätte sie tragen müssen, immer denselben, denn mehr war nicht vorgesehen. Gefroren habe sie den ganzen Winter.

Auch die Großmutter sei Dienstmädchen geworden, mit vierzehn, und hätte hart gearbeitet alle Tage, gewaschen und geputzt, und auch am Abend sei die Arbeit noch nicht zu Ende gewesen, so dass die Großmutter ein Kind bekommen hätte, mit 16, die Tante meines Gegenüber, und den Vater zwei Jahre darauf. Mit den Kindern des Brotgebers seien die Kinder aufgezogen worden, großzügig zusammen zur Schule geschickt worden, und zu den unehelichen Kindern sei der Großvater, der Brotgeber der Großmutter, nicht anders gewesen als zu den ehelichen. Das sei selten gewesen, damals in den Fünfziger Jahren, und die Großmutter sei ihm so dankbar gewesen, dass es fast peinlich gewesen sei. Herrn Doktor, hätte sie ihn trotzdem immer genannt. Nie beim Vornamen.

Ob sie glücklich war oder unglücklich dabei, habe sie nie gesagt. Vielleicht gab es Glück gar nicht in ihrer Vorstellung, vielleicht war Glück nur etwas für andere Leute. Für die Frau des Herrn Doktor, die Mutter der anderen Kinder, aber offenbar nicht. Zweimal versuchte die Frau Doktor zu sterben, wurde aufgehalten auf dem Weg ins wunschlose Dunkel und lebte weiter. Jedesmal pflegte die Großmutter die andere Frau, wusch sie, fütterte sie, und eines Tages stand die Frau Doktor wieder auf.

Die Kinder des Herrn Doktor studierten, und auch der Sohn des Dienstmädchens ging zur Uni und wurde Ingenieur. Als der Herr Doktor starb, standen alle Kinder und die beiden Frauen am Grab. Dann ging jede ihrer Wege.

Man schrieb sich zu Weihnachten, man besuchte sich, man bedauerte sich, als die Tochter des Dienstmädchens starb, und der älteste Sohn der Frau Doktor: Einmal an Drogen und einmal bei einem betrunkenen, dummen Unfall. „Sie können stolz sein!“, schrieb die Frau Doktor, als der Sohn des Dienstmädchens Leiter eines Abteilung in dem Unternehmen wurde, in das er nach dem Studium eingetreten war, und erschien zur Taufe der Enkel. Als der Sohn von seiner Firma ins Ausland geschickt wurde, bedauerte die eine Frau die andere, und als Großmutter nicht mehr schreiben und nicht mehr sprechen konnte, schrieb die Frau Doktor an den Sohn.

Seine Mutter sei krank, schrieb die alte Frau Doktor. Eine Schande sei es, die alte Mutter nicht zu sich zu nehmen, und er solle sich schämen in dem fremden Land. Besuchen solle er zumindest seine Mutter, aber nicht im Heim, sondern bei ihr. Als der Sohn anrief, wohnte die Mutter schon bei der Frau Doktor.

Es gehe ihr gut, sagte die Frau Doktor, und beendete das Gespräch, weil Auslandsgespräche so teuer seien. Er möge schreiben, denn das sei billiger. Der Mutter gehe es gut, sie werde gefüttert und gewaschen, man sei überdies aneinander gewöhnt, und Geld brauche sie nicht. Das habe sie selber.

Großzügig und beschämend sei das gewesen, sagt mein Gegenüber, hält das Wachs der Kerze mit dem Finger auf, und ein paar grüne Tropfen erstarren auf dem Nagel. „Schon.“, antworte ich, und schaudere für einen Moment, wie sehr das Leben und die Liebe die beiden Frauen zerbrochen haben muss, wie fein zermahlen die Sehnsucht nach dem Geliebtwerden, nach dem Einzig- und Einigsein am Ende gewesen sein muss, um diese Geste zu ermöglichen.

„So will ich nie sein.“, sage ich, um überhaupt etwas zu sagen, und ziehe die Jacke enger um meine Schultern, denn draußen ist es kalt, und der Winter hat gerade erst begonnen.

Mittwoch, 18. Oktober 2006

Wunderschön (eine Neidphantasie)

Wie sich das wohl anfühlt, überlege ich am Rande der Bar, und nippe an einer Flasche Bionade. Wie das wohl ist, so schön zu sein, dass einem die Männer auf der Straße nachschauen, und ab und zu einer gegen einen Laternenmast läuft, weil er die Augen nicht von einem wenden kann, weil man so schön ist, so schön wie die Mädchen in Märchen, mit goldenen Haaren bis zum Hintern und schlank und lang wie Giraffen, eine Giacometti-Gazelle, grazil und zerbrechlich wie eine Meissner Porzellanballerina, so zerbrechlich, dass jeder sofort weiß, dass man unmöglich selber Türen aufmachen oder Tüten schleppen kann.

Großartig muss das sein, denke ich mir, so schön zu sein, dass sich jeder geschmeichelt fühlt, wenn man ihn anlächeln würde, und einem alle möglichen tollen Eigenschaften andichten würde, weil er sich ja nicht eingestehen würde, dass er nur deswegen so begeistert wäre, weil man so schön ist, so zart, so elfenhaft, dass Männer Angst hätten, man könnte zerbrechen, wenn man zu fest angefasst wird. Für humorvoll würde man gehalten, wenn man nur ab und zu lacht. „Die M. ist so humorvoll!“, würden fremde Männer mich rühmen, obwohl ich stundenlang kaum den Mund aufgemacht hätte, und nur ab und zu ein wenig ein freundliches, ein wenig abwesendes Lächeln aufgesetzt hätte, wenn sie einen Witz gemacht haben. - Andere Frauen, die bemängeln würden, dass die wenigen Sätze, die ich geäußert hätte, jedenfalls nicht als besonders amüsant gelten würden, hätte eine weniger hübsche Frau sie geäußert, würden als stutenbissig, wie man so sagt, oder als zickig gebrandmarkt. „Die X. kann’s halt nicht haben, wenn eine andere Frau besser ausschaut als sie.“, würden sie die anderen tadeln, ich müsste gar nichts dazu sagen, und würde nur freundlich lächeln. „Die X ist doch eine Nette.“, würde ich sagen, und sofort als wahnsinnig großzügig und sehr, sehr herzlich gelten, als Freundlichkeit in Person, und dann würde ich die langen Wimpern senken, und mich freuen, es der X. einmal so richtig gezeigt zu haben. Die blöde Kuh.

Vielleicht hätte ich aber tatsächlich nichts gegen die X., wozu auch, denn in meiner Gegenwart würde die X. ja ohnehin nicht einmal bemerkt, und wenn ich auftauche, schaut keiner mehr die X. an, sondern nur noch mich, und alles, was ein Mann in meiner Nähe sagt, würde er nur zu mir sagen, alle anderen Frauen wären unsichtbar, und jeder würde darauf warten, dass ich lächele, und dann hocherhobenen Hauptes durch den Tag schreiten. Würde ich sogar vielleicht einmal laut lachen, mich im Scherz für einen Augenblick bei ihm anlehnen und mir irgendetwas von ihm erklären lassen, was er kann, und ich nicht zu können bräuchte – wie großartig wäre das! Stundenlang würde er strahlen wie ein geborstener Atomreaktor, und wenn er schon eine Freundin hätte, würde er sie auf der Stelle sitzenlassen, wenn ich ihn haben wollen würde, und sich einreden, ich sei etwas ganz Besonderes.

Wunderbar wäre das. Andauernd würde das Telephon klingeln, hochintelligente Männer würden sich darum reißen, mich zum Essen auszuführen, und mir nur die teuersten und besten Restaurants zumuten, und sich freuen, wenn es mir schmeckt. Gedichte würden mir Leute schreiben, mich verherrlichen und von mir träumen. Meine Wege wären leicht und mit seidenen Teppichen ausgelegt, wie etwas Wunderbares und Kostbares würde ich geliebt, und wen ich verlasse, der würde ein Leben lang mit allen künftigen Freundinnen über mich sprechen wie Platon persönlich über das untergegangene Atlantis oder der Papst über den lieben Gott.

Dienstag, 10. Oktober 2006

Die fiktive Krankenschwester

Lügen, sagt man, hätten kurze Beine, womit der Volksmund in pointierter Form zum Ausdruck bringen will, dass früher oder später ohnehin jede auf Täuschung Dritter abzielende Unwahrheit auffliegt, was, wie wir alle wissen, aber maximal dann zutreffend sein dürfte, wenn man - wie ich - seine Ausreden ständig vergisst und zudem zu faul ist, die fiktive Seite seines Lebens einfach irgendwo aufzuschreiben. Man, und da liegt der Volksmund natürlich richtig, verplappert sich, verheddert sich in den straff gespannten Fallstricken zwischen Realität und Fiktion, man trifft gleichzeitig zwei Personen, die jede eine andere Version des Verlaufes irgendeiner Geschichte aufgebunden bekommen haben, von denen maximal eine stimmt, oder man - und dann wird es erfahrungsgemäß besonders schwierig - wird von dem Drang nach Wahrheit einfach übermannt.

Der Triumph der Wahrheit über die Lüge gilt gemeinhin als eine sehr moralische Sache, und darf wohl, hält man die Wahrheit für moralisch vorzugswürdig, selbst dann als überlegen gelten, wenn sie ihrerseits nicht originär moralischen Zwecken dient. Die K. etwa, eine Bekannte von Bekannten, treibt keineswegs die Wahrheitsliebe dazu, eine harmose Lüge gerade ziemlich zu bedauern, wenngleich doch immerhin die Liebe an sich die K. motiviert, allerdings nicht die Liebe zur Wahrheit, sondern schon eher die Liebe zu einem netten Herrn.

Diesen Herrn traf die K. vor einigen Wochen auf einer größeren Party, man unterhielt sich, die K. war übermütig gestimmt, trank viel zu viel Gin Tonic, und so verschwieg sie ihm kurzerhand ihren Beruf. Rechtsanwältin ist die K., und als Rechtsanwältin, wie niemand besser weiß als ich, hat man allen Grund zu seiner Profession möglichst zu schweigen, denn aus mir unbekannten Gründen empfinden Personen männlichen Geschlechts Rechtsanwältinnen als erotisch abstoßend. Krankenschwester sei sie von Beruf, behauptete deswegen die schon ziemlich angetrunkene K., und der nette Herr glaubte jedes Wort.

Man plauderte, man küsste sich sogar ein bißchen, man ging auseinander, und die vermeintliche Krankenschwester verbuchte den Abend als etwas hochstaplerisch, aber reizend, und hatte den Abend fast schon vergessen, als sie den netten Herrn wenig später ein zweites Mal traf. "Wie geht's im Krankenhaus?", fragte er sie, und sie musste einen Moment überlegen, bis ihr einfiel, dass sie ja Krankenschwester war.

Eine Richtigstellung war ihr gerade in bißchen peinlich, und so spann sie schnell irgendetwas zusammen, was ihrer Ansicht nach Krankenschwestern zu erzählen haben, und wechselte schnell das Thema. - Das Gespräch verlief ansonsten noch viel netter als das erste, man küsste sich wieder, man küsste sich weiter, und man verabredete sich für einen der nächsten Abende ganz gezielt.

Recht vielversprechend sieht es also eigentlich aus mit der K. und dem netten Herrn. Die Krankenschwester, die nicht existente Krankenschwester K., liegt der Rechtsanwältin K. allerdings nun schwer auf der Seele und die Wahrheit würgt in ihrem Hals. Denn was, so hat die K. allen Grund sich zu fragen, wird der nette Herr sagen, wenn er von der Täuschung erfährt? Wird mangelnde Wahrheitsliebe der K., allzu früh offenbart, ihn unverzüglich in die Flucht schlagen? Oder wird es das rechtsanwaltliche Berufsleben sein, was die weitere Bekanntschaft beenden wird? Oder empfiehlt es sich einfach, weiterzuschwindeln und Krankenschwester K. noch ein Weilchen am Leben zu lassen, bis die verkappte Rechtsanwältin K. dem Herrn so ans Herz gewachsen sein wird, dass er ihr die Täuschung verzeiht? Indes beschwindelt man doch ungern diejenigen, die einem lieb sind oder es gerade werden, und so ist die Situation der K. ganz insgesamt gerade keine besonders komfortable. Der Sieg der Wahrheit über die Lüge, so wünschenswert auch generell, erweist sich an der K. als individuell durchaus wenig angenehm, und so verdammt sich die K. gegenwärtig schrecklich für ihre anfängliche Schwindelei, was wiederum ja durchaus im Sinne derjenigen sein dürfte, welche zu moralischen Ansichten über Wahrheit und Lüge neigen, der Volksmund etwa, um noch einmal auf jenen zu sprechen zu kommen, der ja, wie bereits ausgeführt, ansonsten selten genug zu siegen weiß, und an der K. derzeit eines seiner raren Exempel statuiert.

Freitag, 29. September 2006

Was auch nicht geht (4)

„Es sieht schlecht aus, meine Damen.“, resumiert die C. ein wenig vor sich hin und zerbröckelt einen dieser italienischen Kekse zwischen den Fingern, die man verpackt kaufen kann in herrlich bunt bedrucktem Papier. „Und ansonsten gibt das Angebot nichts her?“, frage ich, und versuche mich an andere Herren zu erinnern, die man bei Gelegenheit an öffentlichen Orten kennen zu lernen pflegt. „Naja...“, unterbricht die J. meine Gedanken. In weiten Kreisen der Bevölkerung erfreue sich eines gewissen Bekanntheitsgrades ja auch noch...

Die Canaille

Fragt man einen beliebigen netten Herrn nach demjenigen Freund, den er am meisten beneidet, so wird er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weder den Wohlhabendsten nennen noch den Erfolgreichsten, und noch nicht einmal den, der am besten ausschaut. Der vielbeneidete, weil vielgeliebte Freund jedes Mannes entspricht vielmehr einem Typus, dessen Anziehungskraft auf Umständen beruht, die nur als wahrhaft dunkel zu bezeichnen sind: Es geht um die Canaille.

Der Erfolg der Canaille beruht zumindest teilweise zwar zweifellos auf seiner Unverschämtheit. Auf die Idee, irgendjemand wolle sich nicht mit ihm treffen, kommt die Canaille nicht einmal, und so spricht auch die arbeitslose, haarlose und übergewichtige Canaille nur diejenigen Frauen an, die jeder ansprechen würde, wenn er denn den Mut besäße. Die Canaille würde auch etwa Kate Moss zu einem gemeinsamen Bier auffordern, die Dame zahlen lassen, und sich nach erfolgreichem Treffen einfach so drei Wochen nicht melden.

Die Canaille hält vielleicht einer alten Dame die Tür auf, junge Damen jedoch, so nimmt es die Canaille an, seien auf seine Hilfe nicht nur nicht angewiesen – sie wären unverschämt, Hilfe zu erwarten, und so taucht die Canaille alle paar Monate auf, frisst den Kühlschrank leer, verschwindet mitten in der Nacht, weil das Telefon klingelt, und sagt nicht, wer angerufen hat. Vielleicht borgt sich die Camaille noch Geld, vielleicht lässt sie sich aber auch nur ein paar Hosen bügeln – jedenfalls ist von der Canaille außer Ärger nichts zu erwarten, und so nimmt es rein nach den Gesetzen der Logik wunder, dass das Telefon der Canaille trotzdem immerzu klingelt.

Frauen würden geradezu schlecht behandelt werden wollen, zieht so mancher Mann seine Schlüsse aus dem unglaublichen Erfolg der Canaille, und versucht es seinerseits mit ein wenig schlechtem Benehmen. Indes scheint außer Rücksichtslosigkeit und einem ungehobelten Wesen die Canaille noch über einen zusätzlichen, schwer zu benennenden und absolut imponderabilen Charme zu verfügen, denn nicht jedem ist es gegeben, von Frauen für sein mieses Betragen geliebt zu werden.

Dass von der Canaille vor diesem Hintergund nur abgeraten werden kann, versteht sich beinahe von selbst. Versuche, die Canaille zu bessern, aus einem solchen Herrn aufrichtige und nachhaltige Gefühlsbezeugungen, Geschenke, die von Herzen kommen oder ähnliche angenehme Dinge herauszupressen, sind daher schon vom Anfang an zum Scheitern verdammt.

Und selbst wenn es gelänge: Was unterschiede die Canaille dann noch von einem normalen Mann, und würde sich nicht vielleicht sein Reiz in diesem Moment ins Nichts verflüchtigen?

„Es sieht wirklich nicht gut aus“, knurrt die C., und öffnet eine letzte Flasche Wein.



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