Über Liebe

Dienstag, 26. September 2006

Was auch nicht geht (3)

"Das hört sich ja gar nicht gut an.", schüttelt die C. den Kopf und verschwindet kurz in der Küche. "Niederschmtternde Aussichten, so alles in allem.", bestätige ich und helfe der C., einen Apfelkuchen aus der Form zu befreien, während die J. die Sahne schlägt.

"Ja, und das ist noch nicht alles.", versucht die J. den Mixer zu übertönen. Denn da sei ja beispielsweise auch noch

Das ewige Kind

Das ewige Kind ist bekanntlich derjenige Herr, der den einzigen Sinn der Vaterschaft darin sähe, auf der Stelle eine Carrera-Bahn kaufen zu können. Das ewige Kind kommt zudem schon zur ersten Verabredung zwanzig Minuten zu spät, um sodann den etwas ausgewachsenen Schopf zu schwenken und von seiner Playstation zu sprechen und diesem Wahnsinnsspiel mit Monstern, das er verdammt gern hätte, aber das leider sein Einkommen gerade ziemlich übersteigt, da er auch mit 38 noch irgendwo jobbt, bevorzugt in einer derjenigen Branchen, die irgendetwas Unbestimmtes mit Kunst, Film oder Medien generell zu tun haben, denn das ewige Kind plant, einmal groß herauszukommen, wenn es einmal erwachsen ist, was voraussichtlich allerdings vorm Eintritt ins Rentenalter nicht der Fall sein wird.

Ansonsten ist das ewige Kind ein passionierter Fußballspieler in Berlins Wilder Liga, und besucht in seiner Freizeit gern Clubs in Friedrichshain oder so, wo alle Anwesenden außer dem ewigen Kind maximal 22 Jahre alt sind. Da tanzt er ausgelassen und ekstatisch, beklagt ab und zu, wie viele Leute nur dem Ausweis nach jung sind, aber um drei nach Hause gehen, während er... Leider reagiert er äußerst allergisch, macht man ihn auf die 15 Jahre Altersunterschied aufmerksam, die zwischen den anderen Gästen dieser Tanzveranstaltungen und ihm selber liegen.

Gern verliebt sich das ewige Kind in eine jener reizenden jugendlichen Personen, die in derartigen Clubs zu verkehren pflegen, und unterhält sich hingebungsvoll über die Probleme, die der Erwerb des kleinen Scheines im Strafrecht oder der Gesellenprüfung des ehrbaren Handwerks des Schaufensterdekorationswesens bedeutet. Als Mann in durchaus mittleren Jahren, der gerade im Begriff ist, sich im mit einer fünfzehn Jahre jüngeren Person zum Trottel zu machen, sieht sich das ewige Kind selbstverständlich nicht, denn die jugendliche Geliebte ist ja in der Wahrnehmung dieses Herrn ungefähr so alt, wie er sich fühlt, und wie es im Übrigen auch seinem Einkaufsverhalten entspricht, was jeder, der dem ewigen Kind einmal eine halbe Stunde gegenüber gesessen hat, bereits an seiner Garderobe bemerken kann. Diese nämlich entspricht voll und ganz dem, was die einschlägige Presse der interessierten Öffentlichkeit als exorbitant angesagt für die nach 1980 geborenen Jahrgänge vorstellt.

Aus vorstehend ausgeführten Gründen ist die Gefahr, das ewige Kind versehentlich zum Gefährten zu wählen, bereits aufgrund des Paarungsverhaltens dieser Gattung so gut wie ausgeschlossen, zumindest dann, wenn man selber den 25 Geburtstag bereits gefeiert hat, und außerdem seit vielen Jahren nicht mehr dort verkehrt, wo das ewige Kind seine mittleren Jahre verbringt, bis der Türsteher ihn nicht mehr einlässt oder fragt, ob er in diesem Etablissement seine Tochter abholen wolle.

Das sei nicht lustig, knurrt die C. aus verschiedenen Gründen, und verschluckt zum Trost ein großes Stück Apfelstrudel fast unzerkaut und mit sehr viel Sahne.

Aber das ist noch nicht alles, lässt die J. vernehmen und trink ihre Kaffeetasse leer,

weswegen übermorgen Fortsetzung folgt.

Montag, 25. September 2006

Was auch nicht geht (2)

"Schmeckt's?", fragt die C. und salzt den Rehrücken ein wenig nach. "Alles bestens.", bestätige ich, verteile großzügig eine dunkle Sauce mit rosa Pfeffer und Madeira über das Fleisch und ein luftiges Puree von Kartoffeln und Sellerie, und eine kleine Weile spricht niemand.

"Was ist denn nun an den anderen Herren falsch?", knüpfe ich an die Ausführungen der J. wieder an. "Leider auch unbrauchbar.", bestätigt diese, betrachtet eine Weile versonnen den dunkelroten Inhalt ihres Glases und fährt fort. Denn abgesehen von den durchaus eher lästigen Rettern gebe es da beispielsweise ja noch

Den armen Ritter

Mit dem Retter auf den ersten Blick leicht zu verwechseln, lebt der Ritter die Grundannahme seiner Entbehrlichkeit auf andere Weise aus. Rettet der Retter gern arme Hascherl vor dem Untergang, so hat der Ritter begehrenswertere Ziele ins Auge gefasst. Sein Blick heftet sich nicht auf die Fußkranken der ganzen Veranstaltung, sondern auf die Burgfräulein, die Prinzessinnen, die blonde Schönheit des Semesters, die strahlende Königin des 103, und errötend folgt er ihren Spuren.

Die Prinzessin allerdings hat für den armen Ritter wenig über. Irgendetwas, so weiß die Fama, entspricht am armen Ritter stetig nicht dem Ideal, welches die Prinzessin durch die Welt trägt, und so bleibt dem Ritter nichts weiter übrig, als sich in die Rolle des Haushofmeisters zu schicken, des Reisemarschalls, der Sparkasse, des Hausarbeits-Ghorstwriters zumal, und eigentlich aller Handwerker von Berlin, um sich auf diese Weise nützlich zu machen, denn als Ritter an sich, als nackter Mann sozusagen, interessiert sich die Prinzessin nicht die Bohne für den armen Kerl, der es trotz dieser sich mit zunehmendem Zeitablauf stetig verfestigenden Gewissheit nicht lassen kann, sich auch weiterhin so lange zum Haustrottel der Dame zu machen, bis sie ihn entweder erhört, oder aber jemanden anders so intensiv erhört, dass für den armen Ritter fortan keine Verwendung mehr besteht. Während man vom ersten Fall sozusagen noch nie gehört hat, bildet letzterer den Regelfall, nach dessen Eintritt der arme Ritter sich zumeist schnurstracks das nächste unerreichbare Ziel suchen wird.

Eines Tages aber, meist um den dreißigsten Geburtstag herum, wird der Ritter nachdenklich. Die Frauen seines Herzens erweisen sich als nach wie vor unerreichbar, beruflicher Erfolg hilft entgegen seinen Erwartungen auch nur in wenigen und zudem wenig verlockenden Fällen, und so kann es sein, dass der Ritter Schwert und Lanze der hohen Minne fallen lässt und sich erreichbaren Zielen zuwendet, die dann den Rest ihres Lebens mit dem wenig angenehmen Gefühl verbringen dürfen, den traurigen Kompromiss zwischen den Möglichkeiten eines Mannes und seinen Wünschen darzustellen.

Das geht natürlich überhaupt nicht, schüttele ich den Kopf und kratze das letzte Puree von meinem Teller. Aber da war doch noch mehr, meine ich mich zu erinnern, als ich mich das letzte Mal umgetan habe unter den Söhnen des Landes, da waren doch zum Beispiel...

diejenigen Herren, die erst morgen vorgestellt werden.

Sonntag, 24. September 2006

Was auch nicht geht

Ein Desaster in vier Gängen

„Mit den Männern“, hebt die J. das Glas, „bin ich ja fertig. Kein Herzblut, kein Herzklopfen, und nie, nie wieder am Telephon sitzen und warten. Mit der Liebe bin ich durch.“ – Die C. und ich schauen uns ein wenig betreten an und kauen ein wenig hilflos auf den saftigen Scheiben einer Forellenterrine herum.

„Ist ja vielleicht nicht das Schlechteste.“, relativiere ich ein wenig. „Abwarten, ein wenig Zeit ins Land gehen lassen, und dann kommt einer um die nächste Ecke....“ – Die J. aber schüttelt energisch den Kopf. Da käme nun nichts mehr. Wer jetzt als Mitglied der einschlägigen Jahrgänge noch nicht in festen Händen sei, der könne nicht oder wolle nicht, und ein ganzer Mann solle es im Übrigen schon sein, denn als Nebenfrau tauge sie erfahrungsgemäß herzlich schlecht, und der halbherzigen Lösungen sei sie mehr als überdrüssig.

Über dem Tisch hängt für einige Sekunden eine düstere Wolke verlegenen Schweigens. „Nette Männer gibt’s doch immer.“, tröstet die C., aber die J. ist nun, beflügelt von dem zweiten Glas Weißburgunder, nicht mehr zu halten. Nein. So sei das eben durchaus nicht. Was nun noch, jenseits des dreißigsten Lebensjahrs verfügbar sei, sei den durchaus weniger amüsanten Kategorien der Männerwelt zuzuordnen. – „Und die wären?“, frage ich und knete ein wenig an dem Wachs herum, das am Kerzenhalter der Tischdecke entgegenläuft.

Da sei, hebt die J. an, ja zum Beispiel

Der Retter


Der Retter, wie man weiß, nimmt sich gern junger Damen an, deren Leben irgendjemand bei Gelegenheit einmal in Ordnung bringen sollte. Probleme, die jeden anderen in die Flucht schlagen würden, ziehen den Retter daher magisch an. Hört der Retter beispielsweise von einer Person, die schwere Neurosen, gern eine lange und vergebliche Therapiegeschichte, vielleicht das eine oder andere Suchtproblem oder etwas ähnliches aufzubieten hat, so zittern seine Nüstern, sofort lässt er sich Telefonnummern geben, und wird die nächsten Jahre mit dem Versuch zubringen, die Dame wieder auf die Hinterbeine zu stellen.

Das allein legt bereits die Vermutung nahe, der Retter trage einen kleinen Komplex mit sich herum. Tief vergraben in dem schlammigen Grund seiner Seele hält der Retter sich nämlich für kein sonderlich liebenswertes Wesen, das seine Anwesenheit im Leben von weiblichen Personen deswegen nur durch seine Nützlichkeit zu rechtfertigen in der Lage sei, und was könnte nützlicher sein als eben die Rettung?

Eine noch etwas anstrengendere Unterart des Retters rettet gern Frauen, die sich an sich - und für den Rest der Welt nur allzu offensichtlich - auch selber recht gut zu helfen wissen. Da hier wenig gerettet werden muss, und kein über die Ufer getretener Lebenslauf wieder in ein sanft begradigtes Bett zurückgeleitet werden braucht, muss der Zustand der Rettungsbedürftigkeit in jenen Fällen erst einmal herbeigeführt, oder doch zumindest herbeigeredet werden. Der Retter neigt also zum Pathologisieren. Gern tröstet er verlassene oder sonstwie unglückliche Frauen, findet die abenteuerlichsten Ursachen für das Scheitern verschiedenartigster Projekt in der zarten, aber schadhaften Seele der jeweiligen Frau, von der ohnehin mehr, als die meisten Damen es schätzen, die Rede ist, und empfiehlt einen guten Therapeuten, denn man müsse die Vergangenheit bewältigen, um nach vorne schauen zu können, wo das wahre Leben wartet – mit letzterer Aussicht meint der Retter indes in Wirklichkeit lediglich sich selbst.

Der Retter ist also anstrengend. Der Retter geht daher gar nicht, schließt die J. ihre Ausführungen und erntet ein zustimmendes Nicken rund um den Tisch. - Natürlich sei der Retter, schenkt die C. Wein nach, kein attraktives Modell. Indes seien die Retter ja glücklicherweise nicht allein auf der Welt,

so dass Fortsetzung folgt.

Montag, 11. September 2006

Zwischenstand

Nein, schüttele ich den Kopf. Viel wird sich da wirklich nicht mehr tun.

Wie ich bin, werde ich bleiben. Die Unstetigkeit wird mir bleiben, der schnelle Wechsel zwischen den Gefühlslagen, und das Gefühl der Taubheit zwischen den Tälern. Immer zu schnell das Interesse zu verlieren, wenn sich mir etwas, jemand, was auch immer, verweigert, und gleichfalls, wenn es mir allzu leicht zufällt, beiseite gewischt mit allzu gedankenloser Hand. Nichts zu beenden, jede Tür noch einen Spalt offenlassen, einen letzten Schlüssel am Schlüsselbund, und weiterziehen. Lauter offene Enden so vieler Geschichten, deren Anfang ich nicht mehr weiß.

Stets allzu leicht zu entflammen, abgekühlt dann wortlos zu verschwinden nicht aus Scham, nicht aus Überlegung, sondern aus schierer Gleichgültigkeit, und die Schalen des Lebens irgendwo liegenzulassen am Weg. Va banque spielen, und den Preis schuldig bleiben, wenn auch dieses Casino langweilig wird. Immer wieder packen und verschwinden und alles vergessen, was jemals war.

Das schlechte Gedächtnis wird nicht besser werden mit den Jahren. Schon jetzt Namen zu vergessen, Gesichter, Haut und Hände, irgendwo, aber das weiß ich nicht mehr. Vielleicht, mein Herz, ist es auch gar nicht wahr, denn sonst hättest du doch nicht alles vergessen, und bautest dir etwas Neues aus den faulenden Planken der Schiffe. Alle paar Jahre sich häuten zu müssen, und doch dieselbe zu bleiben auf einer anderen Bühne. Zu lächeln, zu bluten, zu spielen, weil es doch meist nur Geld ist, mit dem du spielst, nur kaltes Fleisch, und nichts Ernstes, das sich mir entzieht. Auf den Ernst zu warten, der nicht kommt. - Zieh mir die Haut ab, rufe ich ihm nach, aber er schüttelt den Kopf und bleckt die Zähne, die nur für die anderen da sind und nicht für mich.

Ein Kieselstein aus Reserve wird mir bleiben. Nie ganz dabei sein, stets einen Seitwärtsschritt entfernt, und nie deckungsgleich mit dem, was mich umgibt. Nicht wollen oder nicht können. Wer kann das wissen, zucke ich die Schultern aus Bequemlichkeit, und lebe mit dem dünnen, trennenden Faden zwischen mir und der Welt. Keine Meinungen zu haben, die ich nicht alle drei Tage vergäße, aber Nerven, die ausschlagen, wenn ein Ton zu schrill ist, eine Linie verzeichnet, oder eine Geste, ein Wort ohne Anmut. Die allzu vielen Tage, an denen ich keine Haut habe, und das rohe Fleisch mir brennt mit jedem Luftzug.

Die Melancholie wird mir wohl bleiben und der Leichtsinn dazu. Die Suche nach etwas Dunklem, nach einer gleißenden Wahrheit, die mir die Haut verbrennt, bis nur die Knochen übrig sind, weiß und rein und schweigend wie alles, was perfekt sein soll. Die Unruhe, die alle paar Jahre nach mir greift, und mich weitertreibt irgendwohin, wo vielleicht eine lächelnde Reinheit wohnt, fragloser Glaube, stumme Erfüllung, Demut, Hingabe an ein schweigendes, lichtes Meer, das sich über mir schließt.

Aber viel wird da nicht mehr kommen, und die Welt und ich werden uns einiges schuldig bleiben, was mich schmerzen würde, hätte ich es einmal erwartet und vielleicht gewünscht.

Mittwoch, 19. April 2006

Wiedersehen

„Wir treffen uns morgen nachmittag. Ich hab‘ ihn 14 Jahre nicht gesehen.“, erzähle ich der C., und krame in meinem Gedächtnis nach irgendwelchen Details jener kurzen, drei oder vier Monate währenden Liebe, wie sie angefangen hat, und wie sie endete. „Warst du sehr verliebt in ihn?“, fragt die C., aber ich kann mich nicht erinnern. „Bestimmt.“, sage ich. „Schlank war er.“, erzähle ich. „Nervös und zappelig, ein exzellenter Schachspieler mit feinen Händen und schwarzem, struppigen Haar.“ – „Oh, die Sorte Mann beziehst du schon länger im Abo?“, lacht die C., und wir bestellen mehr Wein und ein paar Oliven.

Schlank ist er nach wie vor, auch seine Haare sind noch schwarz und struppig, aber kürzer, gezähmt, wie der ganze Mann, der im Café „LassunsFreundebleiben“ auf dem Sofa sitzt und aufsteht, als ich eintrete. „Hey. Schön, dich zu sehen.“, umarmen wir uns, als seien wir uns gar nicht fremd, und sprechen laut und viel über Berlin und München, über das Meer und den arg langen Winter dieses Jahr. Er ist Lehrer geworden, und ich nicke möglichst ernsthaft. Erdkunde und Geschichte unterrichte er an der Realschule, erzählt er, und ich überlege ein bißchen, was es über mich aussagen mag, dass der Beruf des Lehrers bei einem Mann stets ein wenig ridikül auf mich wirkt. „Was machst du?“, fragt er mich, als würde es ihn wirklich interessieren, und ich erzähle ein bißchen aus einer Welt, die ihm fremd erscheinen muss und vielleicht sogar ein wenig unsympathisch. Ein netter Fremder sitzt mir mit einer Tasse Milchkaffee in der Hand gegenüber, und ich suche in seinem Gesicht, in seinen Gesten, nach etwas Vertrautem, das doch da sein muss, denn einmal, da bin ich mir sicher, habe ich die scharfe, gerade Nase, die grauen Augen und die schlanken Hände geliebt.

Er sei mit seiner Freundin zusammengezogen, die auch Lehrerin sei, Sonderpädagogin an einer Schule für verhaltensauffällige Kinder, und zeigt mir ein Photo eines pausbackigen, netten Mädchens, blond und ein wenig rundlich, die freundlich und patent in die Kamera lacht. Ein bißchen langweilig, denke ich, „Nett schaut sie aus.“, sage ich, er nickt und erzählt vom Hauskauf in einem Vorort einer hessischen Stadt, in der ich nicht begraben sein möchte, von den Eltern seiner Freundin, die um die Ecke wohnen, und dem Glück, noch gerade so verbeamtet worden zu sein . „Schon sehr groß, Berlin.“, sagt er, und ich ärgere mich ein wenig über seine Biederkeit, als ginge es mich etwas an.

„Liest du noch so viel?“, fragt er, und ich nicke. Nicht mehr soviel wie mit 15 oder 16 freilich, als ich immerzu las, nachts, tagsüber, in der Schule, und, so fällt mir ein, wir stundenlang nebeneinander im Garten seiner oder meiner Eltern lagen, lasen und uns die schönsten Stellen vorlasen. Wir erzählen uns ein wenig über die Bücher, die wir gerade lesen, gelesen haben, lesen wollen, und kommen ein wenig an in der Gegenwart. Daniel Kehlmann, sagt er. Habe ich noch nicht gelesen, sage ich. Gerade wieder den Grand Meaulnes, immer wieder Schnitzler, er hat gerade Doderer gelesen, ich lese Huysmans, und die Vergangenheit rückt noch ein wenig weiter weg: Zwei seit Jahren erwachsene Leute sitzen in einem Café und sprechen angeregt über Bücher. Egal wird, dass ich so gut wie jeden gemeinsamen Moment vergessen habe, und er vielleicht auch, und als uns nichts mehr einfällt, was wir gelesen haben oder lesen wollen, stehen wir auf und zahlen.

Dann geht er, ein schlanker, noch dunkelhaariger Lehrer, in den gewiss jedes Jahr ein paar Schülerinnen heimlich verliebt sind, und keine schlechte Wahl getroffen haben werden, die ihnen peinlich sein müsste, wenn sie einmal erwachsen sind.

„Immer noch nett.“, erzähle ich der C. am Abend. Ein bißchen langweilig. Und so egal, so schrecklich egal, wie alles einmal gleichgültig sein wird, wenn es nur lange genug vergangen ist, und keine Rechnungen offen.

Samstag, 25. Februar 2006

Happy End

Er erinnere sich, erzählt er, nicht mehr genau an alle Liebhaber der Mutter, die irgendwann ins Haus kamen, schon lange vor der Scheidung. An einen aber erinnere er sich noch genau, einen Studenten, zehn Jahre jünger als seine schöne Mutter, deren sinnliches, hohes Lachen einen Raum füllte, als seien die anderen Frauen eines Festes gar nicht da. Der Student habe viel mit ihm gespielt, ihm immer etwas mitgebracht, eine gelbe Trillerpfeife etwa, einen Luftballon in Form eines Hasen mit langen Ohren, und ihm morgens, wenn seine Mutter noch schlief, und der Student zum Bäcker ging und ihren Hund ausführte, immer ein Hörnchen mitgebracht, bestreut mit Mohn. Eines Nachts aber kam die Mutter mit einem anderen nach Hause, der Student wurde verabschiedet, und durfte nicht mehr erwähnt werden. „Nun gib doch endlich Ruhe mit dem G.“, wurde er von der Mutter beschieden, erwähnte den Studenten nicht mehr, und eines Tages war auch der Neue wieder weg.

Die Frauen des Vaters waren nicht so schön wie die Mutter. Wenn sie lachten, drehte sich kein ganzes Lokal nach ihnen um, und er erinnere sich aus diesen Jahren auch nur an eine Geliebte des Vaters, ein eckiges, fast unhübsches Mädchen, die, als die Eltern schon getrennte Wohnungen hatten, eines Nachts weinend in das Kinderzimmer kam, und sich neben ihm auf sein Bett geworfen hatte, heulend, als sei jemand gestorben, aber es war wohl bloß die Liebe, denn auch das Mädchen tauchte nicht wieder auf. Schließlich kam die Scheidung, sein Vater behielt die großen, etwas gespenstischen Gemälde Gerhart Richters auf der Galerie, und die Mutter bekam den Baselitz, der in ihrem Esszimmer im ersten Stock hing, später, als ich regelmäßiger Gast war in diesem Hause, in dem es so lebhaft zuging wie bei mir daheim, und ständig Menschen kamen und gingen. Im Garten lagen Freunde mit Fremden zwischen dem weißen Oleander, den Rosen und dem Lavendel aus dem Park von I Tatti. Auf der Terrasse trank seine Mutter mit meiner Mutter und anderen Freundinnen lachend Prosecco, irgendwann gegen Ende der Achtziger Jahre.

Ihr Sohn sei zu ernsthaft, ganz der Vater, nicht sehr amüsant und zu still dazu, konstatierte seine Mutter in diesen Jahren, und kümmerte sich nicht weiter um ihn, dem sie täglich Geld in eine indische, gehämmerte Schale legte, um irgendwelche Ausgaben zu bezahlen, nach denen sie nie fragte. Ab und zu, wenn sie besonders verliebt war, fuhr sie einfach weg oder zog um. Dann musste er mit. Manche von den neuen Männern der Mutter waren nett, manche bemühten sich um Kameradschaft mit dem fast erwachsenen Sohn, der an ihren Parties nicht teilnahm und selber nie eine veranstaltete. Verschwand ein Lebensgefährte oder ein Liebhaber der Mutter, so dachte er nicht mehr an ihn, vergaß ihn, wie ihn die Mutter vergaß, und gewöhnte sich an den Neuen. Manchmal verschwand auch die Mutter für ein paar Wochen, dann rief er den Vater an, der Geld überwies, das man in die indische Schale legen konnte, damit immer etwas da war.

Nach dem Abitur zog er aus und kam nicht wieder. Ab und zu verliebte er sich, und wenn er nicht wiedergeliebt wurde, oder viel zu viel, dann verabschiedete er sich oder wurde verabschiedet, und vergaß die Geliebte sofort. Konnte eine einmal nicht vergessen werden, rief er nie wieder an, ging ins Ausland, verreiste mit einer anderen, und als es einmal einen scharfen Stich gab, als eine anrief, die doch nicht ganz vergessen war, da legte er mitten im Gespräch auf. Schmerzlos wurde er 25, 26, und als er 27 war, beschloss er, dass es so nicht weitergehen könne. Man stürbe ab auf diese Weise, behauptet er und klopft mir gegen die Wange. Man wolle erst nicht mehr lieben, und dann könne man es nicht mehr, und laufe am Ende herum als eine verlockende Attrappe seiner selbst. Niemand aber, so fährt er fort, hänge sein Herz an eine Attrappe, eine Fata Morgana, die sich stetig entfernt, wenn man sich ihr nähert, und so zöge man eben weiter und weiter und weiter.

Er wollte nicht mehr weiter, er suchte sich ein Mädchen aus, das ein bißchen zu ernsthaft ist und ein wenig unhübsch. Wenn sie lacht, hört man sie kaum, und umgezogen ist sie in ihrem Leben nur zweimal, einmal nach dem Abitur und einmal nach der Uni.

Zusammenziehen will sie demnächst, heiraten, ein Kind oder auch ganz viele, und das, sagt er, sei eine gute Sache.

Montag, 13. Februar 2006

Der rätselhafte Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung

„Wahrscheinlich hat sie ihm jeden Tag gesagt, dass sie bald heiraten will.“, spekulierte der J. über die genaue Ursache des Endes der letzten Beziehung meiner lieben Freundin B.³. „Das kann ich mir nicht vorstellen.“, erklärte ich trotz durchaus bestehender leiser Zweifel, aber was auch immer emotionale Überforderung aus dem Munde eines Mannes bedeuten mag, die B.³ jedenfalls sucht seit Monaten vergeblich nach einem netten Herrn, der ihr die Freizeit versüßt, und ist, nicht als erste meiner Freundinnen, dabei auf eine jener Plattformen verfallen, die in den nahezu endlosen Weiten des Internets paarungswilligen Personen die Kontaktaufnahme erleichtern oder gar erst ermöglichen sollen.

„Wie läuft denn die Privataquise?“, frug ich die B.³ also im Zuge eines längeren Telephongesprächs und erfuhr folgende Geschichte:

Per Mail und schließlich per Telephon zeigte sich ein 36 Jahre alter Ingenieur als eloquent, nicht uninteressant, einigermaßen zugetan den schönen Künsten, und so fiel kaum mehr ins Gewicht, dass jener irgendwann im Verlaufe der wochenlangen Kommunikation zugab, bereits einmal verheiratet gewesen zu sein und einen vierjährigen Sohn zu haben. Man mailte ein wenig herum, man schrieb sich reizende SMS, und am Donnerstag begab sich die B.³ also zum vereinbarten Treffpunkt, einem Café. Außer ihr saßen in dem Café ein älteres Ehepaar und eine junge Frau, und als die Tür des Cafés sich einige Minuten nach dem vereinbarten Zeitpunkt öffnete, konnte es sich bei dem Neuankömmling eigentlich nur um den Herrn aus dem Internet handeln. Dem ausgetauschten Bild sah der hagere, ungefähr 1,70 Meter große Mann zwar eher vage ähnlich, aber die B.³ erhob sich, ging ein paar Schritte auf den Herrn zu, um ihn zu begrüßen, und sprach einige Worte, denen ungefähr zu entnehmen war, sie sei die B.³, und freue sich, ihn kennenzulernen. Irritiert sah der Mann die B.³ an.

„Sind wir hier nicht verabredet?“, fragte die B.³, nun selber ein wenig erstaunt, und nannte noch einmal klar und deutlich ihren Namen. „Ich glaube nicht.“, brachte der Mann heraus und verließ das Café wieder.

„Aber der wusste doch vom Photo, wie du ausschaust!“, wies ich die Vermutung der B.³, der Fremde sei aus Enttäuschung über ihr – im Übrigen nicht unansprechendes – Äußeres wieder gegangen. „Vielleicht war er`s gar nicht.“, spekuliere ich selber ein wenig herum. „Hast du ihn mal angerufen?“, - Sie hatte. Der Herr aus dem Internet sei jedoch seit Donnerstag nicht erreichbar gewesen, und eine E-Mail der B.³ harre noch der Beantwortung, die sie jedoch nicht mehr erwarte.

„Das macht doch alles keinen Sinn.“, zerbrach ich mir den Kopf weiter über mögliche Ursachen des merkwürdigen Verhaltens des unbekannten Mannes aus dem Café. „Vielleicht hat er mich angelogen, ist gar nicht geschieden, und dann hat ihn der Mut verlassen, mir face to face weiter einen Bären aufzubinden?“, wirft die B.³ einen Vorschlag in die Runde. „Wer sowas wochenlang per Telephon und Mail durchhält, dürfte live da auch keine Probleme haben.“, erkläre ich die Überlegung für unwahrscheinlich. „Oder der macht das zum Spaß.“, meint die B.³, indes dürfte sich das Vergnügen, fremde Frauen nach wochenlanger Kommunikation in Cafés zu bestellen, schon eher in Grenzen halten.

„Was hältst du von der Geschichte?“, frage ich eine andere Freundin eine halbe Stunde später. „Im Internet sind doch nur Verrückte unterwegs.“, kommt es prompt aus dem Hörer.

„Leuchtet mir auch nicht richtig ein.“, sage ich und zerbreche mir weiter den Kopf über die Lösung des Rätsels.

Dienstag, 3. Januar 2006

Pardon, Monsieur...

... natürlich auch im Namen meiner Freundin A., Sie wissen schon – die schlanke, blonde aus der Berlin Bar mit den beiden dunkelhaarigen Freundinnen. Die beiden Begleiterinnen, die B.³ und mich nämlich, völlig klar, würden Sie auf der Straße nicht erkennen, aber die A., die haben Sie den ganzen Abend angeschaut, als sei Ihnen die Heilige Jungfrau beim Duschen erschienen, und es war gar nicht schön von der A., Sie so ausgelacht zu haben.

Sie saßen also da herum, tranken etwas, was aussah wie Gin Tonic oder so, und starrten die A. ein wenig verstohlen aus dem Augenwinkel an, die wie immer ein bißchen zu laut ihre Weihnachtsgeschenke wiedergab, Zusammentreffen mit alten Schulfreunden referierte, und ein paar Anekdoten ihrer früheren Jugend erzählte, in der so viele Männernamen fielen, dass Ihnen eigentlich Angst und bange hätte werden müssen.

Stumm und ein wenig verdrießlich saß die B.³ neben der A., meditierte ein schon eher ereignisloses Jahr 2005 in ihr Glas, und alle Aufmunterungen prallten völlig wirkungslos von ihren glatten braunen Haaren ab. „Wäre der da nichts für dich?“, piekte die A. sotto voce die B.³ schließlich in die Seite und deutete mit einer Kopfbewegung auf Sie, und einen Moment taten Sie mir richtig leid, und wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie sogar ein wenig errötet. „Schaut ein bißchen fad aus, aber immerhin vernünftig angezogen, und mit den Haaren kann man bestimmt was machen.“, pries die A. Ihre Erscheinung der B.³ an, und Sie schauten ein wenig verdattert und ziemlich verlegen in der Bar herum.

„Hey, du!“, beugte sich die A. dann auch noch vor und sprach Sie direkt an, und bat um Ihre Telephonnummer. „Du willst mich anrufen?“, stotterten Sie, und die A. schüttelte lachend den Kopf. „Ist für meine Freundin! Die findet dich ganz toll.“, und Sie schauten die B.³ vermutlich zum ersten Mal überhaupt richtig an und würgten ein paar Laute hervor, die Ihnen mindestens ebenso peinlich waren wie der B.³, die blutrot angelaufen zwischen der A. und mir saß, sterbend vor Verlegenheit, und krampfhaft auf ihre Stiefel starrte.

„Tja, so wird das nie was.“, kommentierte die A. Ihr Schweigen, wandte sich wieder ihrem Glas zu, und Sie pressten ein paar Worte aus Ihrem Mund, die ungefähr lauteten „Ihr macht doch Witze, oder?“, und es war nicht schön von der A., dermaßen laut zu lachen, dass der ganze Laden sich nach ihr umdrehte. Dass die dritte am Tisch, also ich, angesichts der ganzen Burleske auch noch anfangen würde, laut herauszuprusten, war da wohl gar nicht mehr so schlimm.

Eine Stunde später oder so, Sie waren längst verschwunden, hatte sich die B.³ dann immerhin soweit erholt, dass sie irgendetwas in ihr Glas nuschelte, dass klang wie „Mit dir hätte er sich sofort verabredet.“, und die A. fröhlich zurücktrompetete: „Aber ich nicht mit ihm!“

Aber das haben Sie ja zum Glück nicht mehr mitbekommen.

Montag, 12. Dezember 2005

Das Meer wäscht uns aus

Die ganze Nacht hatte der Sturm das Meer umgegraben, und das sommerliche Blau nach unten gespült. Grau und aufgerissen starrte der Ozean uns entgegen, an diesem Sommermorgen morgens um fünf, und am Strand lag der Abfall der See, den das Wasser aufs Land geworfen hatte. Mit nassen Hosen, frierend auf dem feuchten, harten Sand, tranken wir die Flaschen leer und rauchten, als gelte es, unbekannte Mächte mit Brandopfern zu versöhnen. Ein paar Meter entfernt hatte es einen Rinderschädel mit eingedrückter Hirnschale aufs Trockene gespült, ein paar Quallen und alte Seile dazu, und zwischen den Muscheln lagen die Reste brauner Knochen, keiner länger als drei, vier Zentimeter. Vor uns lag die Nacht noch in schweren Wolken über den Wassern, und mit geschlossenen Augen ließ ich mich in den Sand fallen, müde von den vielen Worten, und blies den Rauch der Zigarette in die scharfe, salzige Luft.

„Nur bis zu den Knien.“, hörte ich den J.² sagen, die kurzen Antworten des R., und schlug die Augen auf. „Ich komme mit.“, sagte ich, und ließ die Jeans am Strand, wo der R. auf uns wartete. Das Wasser fühlte sich kälter an als am Vortage, schwerer, als hätte der Sturm die Masse zusammengepresst und verdichtet. Stumpfgrün zog das Meer an unseren Beinen, und Hand in Hand gingen wir der Dunkelheit entgegen bis das Wasser mir bis zur Hüfte reichte und kraftvoll zurückwich, um Sekunden später zurückzukehren und mir ins Gesicht zu schlagen. „Lass uns umkehren.“, zog der J.² an meinem Handgelenk, und ich schüttelte den Kopf. Ein paar Meter hinter mir blieb er stehen.

Immer ziehender wurde das Meer, die Wellen schlugen zusammen über meinem Kopf und trieben mit ihrem Salz den bitteren, betäubenden Geschmack der Nacht aus meinem Mund. Für Sekunden hob ich die Beine vom Boden, um mich wegtragen zu lassen, der Nacht hinterher, und setzte Schritt für Schritt den Weg fort, der Mitte des Meeres entgegen, wo es dunkel werden würde und kalt.

In der Mitte aber, in der Mitte des Meeres auf einem Stein, säße einer mit abgewandtem Gesicht, und würde auf mich warten. Auf seinem Schoß würde ich sitzen, das Gesicht in seine Halsbeuge gepresst, und mich festhalten an seinen Schultern, und er würde Stück für Stück mir das Fleisch von den Armen beißen, bis nichts mehr über wäre, und der nächste Sturm die Knochen an den Strand spülen würde.

Keiner länger als ein paar Zentimeter.

Mittwoch, 26. Oktober 2005

Die E-Mail-Exegese

„Ruft sie dich auch die ganze Zeit an?“, fragt mich die A., ich bejahe, und die A. macht sich ein klein wenig lustig über die gemeinsame Freundin B.³, die der jüngst geschlossenen Bekanntschaft mit einem jungen Herrn eine Relevanz beizumessen scheint, die angesichts des bisher mäßigen Grades an Vertrautheit nur durch die Seltenheit zu erklären ist, mit der überhaupt Männer im Leben der B.³ auftauchen, denn besonders gutaussehend oder originell, so die A., sei der betreffende Herr ja anscheinend nicht. Vor den Kühlregalen bei MINIMAL in der Kulturbrauerei habe die B.³ ihn aufgelesen, vernehme ich, im Café November um die Ecke habe man einen Kaffee getrunken und war sich so sympathisch, dass immerhin ein abendliches Bier und eine weitere , zunächst unterminierte Verabredung aus dem Zusammentreffen resultierten. Nicht nur die B.³ allerdings ist eine durchaus vielbeschäftigte Person, auch der Herr aus dem Supermarkt verbringt viele, viele Stunden in seinem Anzug hinter dem Schreibtisch, und so versuchen die B.³ und ihr neuer Bekannter per E-Mail schon seit Anfang der Woche einen Termin zu finden, an dem beide gleichermaßen verfügbar sind.

„Hallo B.³,“, schreibt der interessante junge Herr beispielsweise am Montagmorgen und schlägt den Donnerstag vor. Der Donnerstag, teilt die B.³ auch mir in einer Mail über den Stand der Dinge mit, sei leider miserabel, denn da käme sie so spät aus Frankfurt am Main wieder, dass eine Verabredung einzugehen schierer Blödsinn wäre. Das schlichte „Hallo“ der Grußzeile allerdings sei doch ohnehin ein fast sicheres Zeichen, dass der Herr aus dem Supermarkt gar kein weitergehenderes Interesse habe? Was ich denn davon hielte, denn „hallo“ schriebe man doch wirklich nur, wenn man gerade nicht dabei sei, sich zu verlieben? Und was haben „schöne Grüße“ zu bedeuten?

Ein klein wenig ratlos sitze ich vorm Rechner und überlege, ob es einen Kodex der emotionalen Interessengrade gäbe, in dem jedem Grad an Interesse eine bestimmte Anrede- und Grußformel zugeordnet ist, und komme zu durchaus negativem Ergebnis. „Das hat bestimmt gar nichts zu bedeuten.“, schreibe ich deshalb zurück, und sehe eine knappe halbe Stunde später erneut eine E-Mail einlaufen. „Liebe Grüße“, habe man ihr soeben gemailt, und mangels Alternativen nun doch den Donnerstagabend als Option mit vorheriger telephonischer Bestätigung vereinbart. – „Liebe Grüße“ indizierten doch aber ein gesteigertes Interesse gegenüber nur schönen, besten, vielen Grüßen? Die A. könne sie da leider nicht konsultieren, die habe sich weitere Nachfragen wegen Irrelevanz verbeten, und die B. sei gerade nicht erreichbar.

„Ich glaube nicht, dass sich Männer über solche Fragen Gedanken machen.“, maile ich zurück, und überlege, ob ich selber, wenn auch durchaus weiblich, mir eigentlich zu irgendeinem Zeitpunkt meiner an unnötiger Aufregung ja immerhin reichen Biographie auch noch über diese Fragen Gedanken gemacht hätte, und komme zu negativem Ergebnis: Oberhalb der „freundlichen Grüße“, die auch dem Landgericht Berlin gelten können, und unterhalb eines schmachtenden „Lieblings“ fällt mir die Grußformel normalerweise nicht einmal auf, und auch die eigene Anrede wie Unterzeichnung gehört nicht zu den Dingen, denen meine Geistestätigkeit gilt. Auf der anderen Seite mag es gerade die unbewusste Wahl der Gruß- wie Anredezeilen sein, die den gewählten Formen Bedeutung unterlegen, denn vielleicht manifestiert sich gerade im Spontan-Unkalkulierten der Grad an Vertrautheit, der entweder besteht oder erstrebt wird? Indes, gebe ich der B.³ zu bedenken, seien die individuellen Abweichungen zu groß, um allgemeingültige Schlüsse aus diesen Umständen zu ziehen – schreibt doch etwa unsere liebe A. alle ihre Freunde beiderlei Geschlechts mit „Schätzchen“ an, derweilen die einzige „Süße“ meines Begrüßungsrepertoires mein Schwesterchen ist und bleibt. Die „lieben Grüße“ pinsele ich unter manche E-Mail, die eben lieben Menschen gelten, während die C. selten über ein knappes „VG – C.“ hinausgeht.

Möglicherweise denke ich, ist aber auch der betreffende Herr derlei Subtilitäten nicht abgeneigt, und signalisiert der B.³ auf diesem Wege doch mehr, als ich in aller Regel verstehe? Wie viele dezente Signale von Interesse und Desinteresse mag ich in den letzten 15 Jahren übersehen haben, die ich mich normalerweise ausgiebig lediglich mit der Tatsache, was und wann geschrieben wird, beschäftige? Ich, die ich mit der Konsequenz sofortiger Kontaktverweigerung die Wände hochgehen kann, mailt das Opfer meines aktuellen Interesses zu spät, zu selten, und zu knapp auf ausführliche Schreiben meinerseits – sollte ich eine komplette Kommunikationsebene einfach übersehen haben?

„Alles Quatsch.“, meint die A., und rät als erfahrene Pistensau auf den Schneisen fremder Herzen zu einer ebenso unaufgeregten wie offenbar erfolgreichen Verfahrensweise: Immer einen Grad weniger vertraulich als der andere. Und immer einen Tag zu spät.

„Und das klappt?“, frage ich ein wenig verblüfft über die Schlichtheit des erfolgreichen Liebeslebens. „Bei mir ja.“, antwortet die A., und hat den Pferdefuß damit praktischerweise gleich miterwähnt.


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